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Weil es im Leben mehr als alles gibt

#Doris Appel, Leiterin "Religion" im ORF-Radio


„Es muss im Leben mehr als alles geben.“ Mit diesem Satz hat einst der amerikanische Illustrator und Autor Maurice Sendak eine kleine surreale Geschichte überschrieben, in der er vom Auszug der Hündin Jennie aus dem beschaulichen Heim erzählt.

Auf die wiederholte Frage einer Topfpflanze, warum die Hündin, die doch alles habe, weggehe, antwortet diese: „Weil ich unzufrieden bin (…). Ich wünsche mir etwas, was ich nicht habe. Es muss im Leben noch mehr als alles geben!“ Und nach jeder Antwort beißt Jennie ein Blatt der Topfpflanze ab. Zum Schluss sagt die Pflanze nichts mehr, es ist ihr kein Blatt geblieben, mit dem sie das hätte tun können. Jennie weiß also nicht, was, wohl aber, dass ihr etwas fehlt. Sie fühlt eine leere Stelle inmitten aller Behaglichkeit. Ob es daran liegt, dass Maurice Sendak, aufgewachsen in Brooklyn und Nachfahre polnischer Rabbiner, Geschichten wie diese geschrieben hat, weil er mit anderen Welten als der rein diesseitigen zumindest gedanklich vertraut war? Weil Menschen wie er bewusst oder unbewusst durchlässig sind für eine Dimension, die man theologisch gesprochen als „Wirklichkeit Gottes“ bezeichnen könnte? Eine Wirklichkeit, die am Anfang einer existenziellen Suche steht – und vielleicht auch am Ende? Meine Kolleginnen, Kollegen und ich als Team der ORF-Abteilung Religion im Radio haben das Privileg, uns mit genau diesen Fragen auseinanderzusetzen. Nähern wir uns doch mit unseren Sendungen auch Bereichen des Denkens an, die die reine Wahrnehmung überschreiten, sie transzendieren. Und wer sich mitunter über das Irdische erhebt, lässt eine neue Perspektive zu. Diese (Glaubens-)Perspektive kann ermutigen, trösten, zum Widerstand befähigen; heilsam sein in Zeiten von (Religions-)Kriegen, Terror und Flucht – und ist nie zynisch.

Vor kurzem erst, Anfang April, wurde in Judentum und Christentum, zu Pessach und Ostern, an kostbare alte Geschichten der Hoffnung erinnert. Sie erzählen von der Befreiung aus Knechtschaft und Tod und damit vom „Triumph des Unwahrscheinlichen über das Wahrscheinliche“ (Carolin Emcke), vom großen Trotzdem, aus dem sich leben und handeln lässt. Und wir haben davon berichtet.

Vom kurzen Bericht über die lange Reportage bis zum Feuilleton und zum Radioessay: Es sollen alle Hörer/innen interessiert werden, diejenigen, die zufällig das Radio einschalten sowie jene, die sogenanntes Stammpublikum sind. Jene, die um ihren Glauben wissen und angemessen bedient werden wollen, jene, die um die kulturelle und auch politische Bedeutung wissen, die Religionskenntnis hat, und jene, deren Interesse durch guten Journalismus erst geweckt wird. Das alles in Form und Inhalt ansprechend und sicher nicht langweilig: Attraktiv und wesentlich wollen wir sein, indem wir über das Phänomen des Religiösen und über real existierende Religionen und Konfessionen informieren, aufklären und Zusammenhänge herstellen – in einer gerade in Religionsfragen immer vielfältiger werdenden Welt. Unser Ziel sind Verständnis und Teilhabe. Und diese werden nicht zuletzt durch den Programmauftrag des ORF ermöglicht, demzufolge der ORF „für die angemessene Berücksichtigung der Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften“, die ja zu einem vollständigen Bild der Gesellschaft gehören, zu sorgen hat.

Es fehlt etwas, wenn Gott fehlt
Religion, der Begriff mag sich vom lateinischen „relegere – bedenken, beachten“ herleiten, ist ein menschlich-individuelles wie auch gesellschaftspolitisches Grundthema. Das betrifft persönliche Sinnsuche gleichermaßen wie gesellschaftliche Verantwortung, berührt Wertekataloge, die die verschiedenen Religionen nahe legen und führt sowohl zu traditionellen Weisheiten als auch zu aktuellen Neuorientierungen, wie sie etwa „das Einwanderungsland Europa“ (Navid Kermani) mit sich bringt. Religion ist relevant. Das zeigt sich auch in Anspielungen und Zitaten in Literatur, Musik und bildender Kunst, die verstanden werden wollen. Und das äußert sich nicht zuletzt in der Arbeit von Initiativen und Hilfsorganisationen, deren Weltbild und Handeln sehr oft religiös motiviert sind. Es fehlt etwas, wenn Gott fehlt, hat es Martin Walser auf den Punkt gebracht. Eine Glaubensfreiheit, die eigentlich Atheismus als einzige Form der Modernisierung akzeptiert, ist keine, schreibt Carolin Emcke. Und: Eine Glaubensfreiheit, die nur den christlichen Glauben meint, ist auch keine. So kommt es nicht von ungefähr, dass wir uns – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Serie „Allah und Abendland“ im Sommer 2017 einem Islam europäischer Prägung gewidmet haben. Verändert doch der Islam Europa, aber Europa auch den Islam, was sich u.a. in historisch-kritischer Koranexegese und einem neuen Umgang mit der prophetischen Tradition zeigt.

Von „Tao – aus den Religionen der Welt“, wo diese Serie zu hören war, bis „Logos – Glauben und Zweifeln“, von „Gedanken für den Tag“ bis „Einfach zum Nachdenken“, von „Praxis – Religion und Gesellschaft“ bis „Lebenskunst – Begegnungen am Sonntagmorgen“ und weiteren Sendungen der ORF-Abteilung Religion im Radio: Berichte aus der und über die Welt der Religion/en, über die Arbeit kirchlicher Hilfsorganisationen und über biblische Weltliteratur machen deutlich, dass es im Leben mehr als alles geben kann – und muss.


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