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© ORF/Milenko Badzic

Vom Rauschen und den Signalen

Public Value Bericht 2015/16: Dipl.-Ing. Dr. Franz Fischler – Europäisches Forum Alpbach


Als Mitglied der Europäischen Kommission lernte ich, wie schnell die Uhren in den Redaktionen und Fernsehstudios ticken. Kein Wunder: Die Summe an News, Entscheidungen und Beschlüssen, die Anzahl an Treffen, Sitzungen und Meetings auf europäischer Ebene ist schon allein im regulären Betrieb enorm groß. Hunderte Mikrofone, Kameras, Aufnahmegeräte und Postings tragen permanent dazu bei, europäische Politik in verständliche Texte und Bilder zu gießen und so öffentliche Relevanz herzustellen. Und das alles in mehr als 20 Sprachen.


Die Taktfrequenz von Politik und Medien war schon zu meiner Zeit als EU-Kommissar herausfordernd, doch dann kam das Jahr 2015 mit all seiner Wucht und den sich überschlagenden Hiobsbotschaften. Das Ausmaß, in dem sich politische Krisen aneinanderreihten, erreichte eine neue Dimension, sowohl für Politik als auch für Medien.


Kernaufgabe der Politik ist es, Krisen zu meistern; die der Medien, die Menschen darüber aufzuklären. Beides wurde im letzten Jahr zur Mammutaufgabe. Vor allem auch, weil sich die jüngsten Entwicklungen nicht in einzelnen Bereichen der globalen Gesellschaft abspielen, sondern gegenseitig beeinflussen, global aufschaukeln, kontrastieren und keine Verschnaufpausen mehr bieten. Die neue Dynamik, mit der Krisen sich verbinden und zu internationalen Schwierigkeiten auswachsen, wurde erst 2015 so richtig erlebbar: der Krieg im Nahen Osten, Massenmigration, der Dschihadismus, der Verlust an Solidarität innerhalb der Europäischen Union, Renationalisierungstendenzen und populistische Auswüchse in Europa, die Expansionspolitik Russlands, ein sich zurückziehendes Amerika und das Fortdauern kriegerischer Auseinandersetzungen. Dazu Terror in Europa. Klar, es gab auch Lichtblicke, die neuen Nachhaltigkeitsziele der UNO, der Pariser Klimagipfel, das Iran-Atom-Abkommen oder der diplomatische Neustartzwischen Washington und Havanna zählen für mich dazu.


Rückblickend hinterlässt das Jahr 2015 jedenfalls einen überwiegend hektischen, unübersichtlichen und krisenhaften Eindruck. Europäische Politik war Krisenpolitik in einer Dichte, die ich zuvor so noch nicht erlebt habe. In den Nachrichten häuften sich die Schaltungen von einem Krisengipfel zum nächsten, die das Gefühl verstärken, dass man keine gemeinsamen Lösungen mehr zu finden vermag.
In einer Welt, die komplexer wird und den Eindruck erweckt, sich immer schneller zu drehen, müssen sich nicht nur Politik und Diplomatie auf ihre Fundamente und Grundlagen besinnen, sondern auch der Journalismus. Für die europäische Politik bedeutet das, sich bei allen Entscheidungen an ihre eigenen Grundsätze zu halten: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Sie sind die Leitplanken, die der europäischen Politik Orientierung und Halt bieten - heute stärker denn je.


Die Politik muss konsequent den rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmen für unser gesellschaftliches Handeln gewährleisten. Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass die Medien gemäß ihren Statuten und Grundsätzen vor allem eines tun können: Unabhängig berichten, frei kommentieren und aus dem ständigen Nachrichtenstrom die relevanten Aspekte beleuchten. Der desaströse Krieg in Syrien zeigt, wie schwierig es ist, trotz Internet ein authentisches Bild der Lage zu zeichnen. Die Flüchtlingsfrage macht deutlich, wie schwierig es ist, die Balance zwischen journalistischer Ethik und publizistischer Glaubwürdigkeit zu halten. Die Terroranschläge machen uns alle betroffen, viele Journalistinnen und Journalisten wurden sogar zur Zielscheibe. Insgesamt kamen 2015 laut der Organisation »Reporter ohne Grenzen« 110 Journalistinnen und Journalisten bei ihren Recherchen ums Leben. Unabhängigkeit und immer noch höhere Ansprüche an den Journalismus setzen jedoch auch eine entsprechende personelle und materielle Ausstattung voraus, ohne die Qualitätsjournalismus einfach nicht funktionieren kann. Das ist umso wichtiger, weil ich davon überzeugt bin, dass in einem Zeitalter der Unübersichtlichkeit der Qualitätsjournalismus wieder stärker gefragt sein wird.


Medien, die nicht auf Hysterie setzen, sondern uns Leser/innen, Hörer/innen und Seher/innen mit auf die Suche nach dem Kern der Sache nehmen, liefern einen dringend notwendigen Mehrwert für jede/n Einzelne/n, aber auch für die Gesellschaft insgesamt. Und ich denke, dieses Bemühen um Qualität wird in Zukunft auch kommerziellen Erfolg bringen, gerade weil der Bedarf nach Fakten, Übersicht und Klarheit steigt. So gesehen sind bessere Ausstattungen der Redaktionen Investitionen, die sich rechnen können. Dazu zählt auch, dem zunehmenden Deutungsdruck des Internets zu widerstehen und sich auf handfeste Aspekte zu konzentrieren. Die Qualität hat es nicht einfach in einer Medienlandschaft, die durch Digitalisierung, Konkurrenzdruck und wirtschaftliche Konzentrierung selbst massiv unter Zugzwang steht. Aber wer es auch in Zukunft schafft, aus dem großen Rauschen die entscheidenden Signale zu filtern, wird sein Publikum finden - zum Wohle von uns allen.

Der Autor
Franz Fischler ist seit 2012 Präsident des Europäischen Forums Alpbach. Er war von 1989 bis 1994 österreichischer Landwirtschaftsminister und von 1995 bis 2004 Agrarkommissar in der Europäischen Kommission.




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