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Abschied vom Gemeinsinn?

Public Value Bericht 2015/16: Prof. DDr. h.c. Werner Weidenfeld – Ludwig-Maximilians-Universität München


Man könnte es sich einfach machen. Das Urteil ist schnell gefällt. Da ist eine Gesellschaft auf einem kompletten Ego-Trip. Die täglichen Schlagzeilen von Exzessen an Gier und Neid, von Egozentrismus und Gemeinschaftsverachtung liefern dramatisches Anschauungsmaterial und Bannen die Aufmerksamkeit. In dieser verheerenden Zuspitzung eines normativen Verfalls bleibt dann wohl nur noch die rationale Erinnerung an die dialektische Struktur menschlicher Existenz übrig: die unauflösbare Verbindung von Personalität und Sozialität. Mein »Ich« erfahre ich als Teil des »Wir«. Und dann könnte man seelsorgerlich appellieren, daraus doch das moralisch Gute zu formen. Diese vergleichsweise simple Beantwortung der Frage, ob wir Abschied vom Gemeinsinn genommen haben, trägt nicht, sobald wir das empirische Datenmaterial sensibel zur Kenntnis nehmen: Mehr als 30 Prozent der Bevölkerung engagiert sich sozial - von der Altenhilfe über die ehrenamtliche Gestaltung von Kinderfreizeitprogrammen bis hin zum Sportverein. Weitere 30 Prozent würden sich gern sozial im praktizierten Gemeinsinn engagieren, wenn sie nur wüssten, wie. Ein hoher Prozentsatz der bereits engagierten Person würde sich gern noch stärker engagieren, wenn sie nur wüssten, wie.

Ganz offenbar ist die Struktur der Gesellschaft, auch in ihrer Europäisierung und Internationalisierung, zu komplex, zu intransparent, zu unfassbar. Wie soll sich da eine Partizipationskultur entfalten, die Formen der Umsetzung vom Gemeinsinn eröffnet? Welche Struktur ist dazu als legitim anzusehen? Wem kann ich in dieser Misstrauensgesellschaft denn vertrauen, wenn ich eine Frage zum praktizierten Gemeinsinn habe? Der Vertrauensentzug hat fast alle Institutionen erfasst.

Das empirische Datenmaterial vermittelt eine klare Botschaft: Wir leben in einer Gesellschaft voller Dispositionen des Gemeinsinns, voller Bereitschaft zum Gemeinsinn - und zugleich in einer Gesellschaft, die nicht hilft, diese Bereitschaft zum Gemeinsinn in Praxis des Gemeinsinns zu übersetzen. Eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht muss die Türen zum praktizierten Gemeinsinn öffnen. Dazu bedarf es offenkundig möglichst vieler Lotsen bzw. Lotsinnen des Gemeinsinns. Die Öffentlich-Rechtlichen können auch auf diesem Feld eine geradezu »staatstragende«, stabilisierende Rolle spielen, wenn sie sich auf die Erfüllung ihres Programmauftrages konzentrieren und dafür sorgen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

Die öffentlich-rechtlichen Medien sind nach wie vor stark verankert in der Gesellschaft und erfahren (noch) eine hohe Zustimmung aus der Bevölkerung. Unter den Massenmedien gesteht man den Öffentlich-Rechtlichen die höchste Glaubwürdigkeit zu. Sie könnten also völlig zu Recht für sich die Rolle als Orientierung gebende Leitmedien beanspruchen und diese auch ausfüllen. Nur würde dies bedeuten, dass sich z. B. ARD, ZDF und Deutschlandfunk befreien müssten - von den Routinen einer politischen Berichterstattung, deren Währung im Erzeugen möglichst permanenter Aufmerksamkeitsausschläge besteht. Das kann nur gelingen, wenn sich die Öffentlich-Rechtlichen darauf konzentrieren, einerseits den Mailstrom der Nachrichten zu kanalisieren, indem sie hinter die Ereignisse blicken, neue oder andersartige Perspektiven bieten und damit die Agenda, worüber in der Öffentlichkeit diskutiert oder gestritten wird, mitbestimmen. Andererseits bedeutet es für die Öffentlich-Rechtlichen auch: sie müssen deutlich mehr Profil in den politischen Debatten zeigen und gegebenenfalls polarisieren. Sie müssen sich positionieren und gesellschaftlichen Bestrebungen, die den demokratischen Rechtsstaat in Frage stellen zu drohen oder den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, eine klare Absage erteilen. Es geht also nicht darum, alle nur möglichen digital und technologisch verfügbaren Verbreitungs- und Ausspielungswege mit »Content« zu bedienen, sondern darum, sich als Qualitätsmedien gegenüber der Öffentlichkeit auszuzeichnen.

Die Schwierigkeit liegt natürlich darin, dass dies nicht autoritär, mit erhobenem Zeigefinger, gelingen kann. Im Gegenteil, die Öffentlich-Rechtlichen müssen sich ihre Autorität oder Kompetenz mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer Verlässlichkeit und nicht zuletzt ihrer Glaubwürdigkeit erstreiten. Das erfordert deutlich mehr Transparenz, Dialogbereitschaft und Angebote der Beteiligung gegenüber den Bürgerinnen, Bürgern, Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern. Die Öffentlich-Rechtlichen würden so wieder zu dem, wozu sie gegründet wurden, nämlich zu einer tragenden Säule unseres demokratischen Gemeinwesens.

Der Autor
Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung an der Universität München; Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).

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