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Die komplexe Welt erklären

Können Medien diese Aufgabe heute noch wahrnehmen?


DIR. UWE KAMMANN, GRIMME-INSTITUT DEUTSCHLAND
Vortrag auf dem ORF-Dialogforum am 22. Oktober 2010 in Wien

Georg Lukács beginnt seinen Essay über die Theorie des Romans mit einem fulminanten Satz: „Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landschaft der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt.“ Lukács begeistert sich bei dieser Vorstellung, verwendet ein festes Präsens, um ein Weltbild zu kennzeichnen, das keine Fragen kennt, sondern nur Antworten, in dem keine Verunsicherung herrscht, sondern reine Klarheit. Aber dann kommt er doch, der Befund, unausweichlich und zunächst ohne Trost: Dass diese schöne Einheit keinen Bestand hat, dass ein Riss den Menschen von jener idealen Weltsicht trennt: das ein verständige Eins-Sein ist verloren gegangen. Aber der Philosoph verteidigt seine hoffende Vorstellung; er ist – wir schreiben das Jahr 1915 – noch nicht in jener Erkenntniswelt angekommen, die ein halbes Jahrhundert später den französischen Philosophen und Naturwissenschaftler Jacques Monod zur kaltnüchternen Feststellung gelangen lässt, dass der Mensch nichts ist als ein Zigeuner am Rande des Universums – ohne Ursprung, ohne Weg, ohne Ziel, ohne Sinn. Einer, der umherirrt, einer, dem jede Orientierung nur eine Täuschung sein könnte: herbeigesehnt zwar, aber letztlich ohne jeden Halt und ohne jede Begründung.

Was hat das mit der Fragestellung nach Orientierung in einer komplexen Welt zu tun? Ganz einfach: In dieser Frage steckt ja auch eine Behauptung, ziemlich explizit sogar: dass eigentlich die Medien diese komplexe Welt erklären können müssten, damit wir uns darin zurechtfinden und in ihr richtig – das heißt gut begründet – handeln.

Allerdings, die Frage danach transportiert auch Skepsis: Können die Medien das wirklich, können sie es überhaupt noch – wenn sie es denn je gekonnt haben? Zur Debatte steht ebenfalls – über die Grundeinsicht hinaus, dass die medial vereinte Welt eben durch diese mondiale All-Einheit für die personenbegrenzte kleine Sinn-Einheit Mensch viel zu groß geworden zu sein scheint – zur Debatte also steht ganz grundsätzlich die Glaubwürdigkeit der medialen Behauptungen. Die erzeugten Bilder, die Töne, die Zeichen: Sie kommen wie aus dem Wasserhahn, ein ewiger Ressourcenstrom, jederzeit zu entnehmen, mit kleinstem Aufwand wieder abzustellen oder zu drosseln. In dieser passiven Verfügbarkeit sind sie einer permanenten Inflation unterworfen: Entwertung durch Überfülle und Beliebigkeit. Und dazu kommt die Ur-Unkenntnis: Wer steckt mit welcher Absicht hinter welcher Information?

Das ist damit der größte Kontrast zur idealistischen Vorstellung von produktiver Öffentlichkeit, von medial sich bildendem Selbst-Bewusstsein. Im 18. Jahrhundert war das eine aufregende neue Zielsetzung: als Aufklärung als erstes und letztes Ziel und als grundlegendes Prinzip entdeckt und gefordert wurde. Aufklärung als Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, so hieß ja die richtungsweisende Formel bei Immanuel Kant. Was in sich trug: keine Bindung an überzeitliche Bilder mehr, keine Verehrung von unbefragten Ikonen, keine Anbetung von überkommenen Botschaften und Botschaftern, kein Verbot der Herstellung stets neuer Sinn-Zusammenhänge: Das war aufregend neu. Denn entdeckt wurde so der Binnenraum des Subjektiven, der Vergleich individueller Sichtweisen, das Erzeugen von Denk-Mustern in einem prinzipiell offenen Raum der Gesellschaft.

Identität bildet sich so über den nie abgeschlossenen Diskurs. Ein fortlaufendes Gesellschaftsgespräch ist Deutungsgrund, der Einzelne entdeckt und formt seine Identität in der Öffentlichkeit und durch die Öffentlichkeit. Und kommt somit den Antworten nahe, die – vielleicht – gegeben werden können auf die ewigen Grundfragen, wie sie Kant an den Anfang aller Selbstvergewisserung stellt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Was aber, wenn die Koordinaten des Gesellschaftsgesprächs als so flüchtig erscheinen wie ihre Benennung? Wenn der Diskurs – der ohne Medien überhaupt nicht zu denken ist – in einem Medienraum mäandert, der auf den ersten, zweiten und auch dritten Blick nicht mehr die leiseste Orientierung gestattet, weil kaum zu unterscheiden ist, was aus erster, zweiter und dritter Hand stammt? Und wenn nur mühsam zu erkennen ist, was mit welcher Absicht an welchen Platz gestellt wird? Und was aber, müssen wir weiter fragen, wenn Publizität und Kommunikation sich auflösen in unendlichen Partikelwelten, die in allen Varianten changieren? Denn was wir heute mit dem Internet entdecken, ist ja eine Welt, wie sie in dieser Form noch nie zu erfahren war: mit entgrenzten Lebensorten für jeden Einzelnen, mit extremer Gleichzeitigkeit, mit ebenso weitgetriebener Zugänglichkeit, mit unendlicher Vielzahl und Vielfalt, und das alles in rasant beschleunigten Abläufen. Informationen jeder Art, in jeder Form, und dies überall und jederzeit: Das ist tatsächlich eine Revolution des Zugangs zur Welt.
Einer Welt, die sowohl in der Organisation des Zusammenlebens als auch in den materiell technischen Lebensgrundlagen hochkomplex ist. So wie die Medien ihrerseits extrem komplex sind – derzeit mit immer neuen Hybridformen vorangetrieben in Richtung einer Totalverflüssigung: Alle Grenzen scheinen aufgehoben, alle Gefäße verlieren ihre ursprünglichen Formen, sind verbunden über ständig variierte neue Funktionen.

Die Empfindung, dass wir damit die Welt, undurchdringlich wie sie scheint, verlieren, ist natürlich nicht neu: siehe Georg Lukács. Und auch früher, bei medialen Revolutionen – wie bei der Erfindung der Schriftlichkeit, des Massendrucks, der elektronischen Medien – gab es Schrecken und Ängste: unterzugehen in der Flut des Neuen, des Unbekannten, des noch Ungeordneten. Das immer gekennzeichnet war durch Beschleunigung und Vervielfachung. Und, natürlich, durch den Verlust an Deutungsautorität bei jenen, welche die alten Medien beherrschten. Das musste natürlich zu Klagen führen, zu Warnungen – nämlich die Orientierung zu verlieren, die Richtschnur des Handelns zu verfehlen.

Lukács übrigens pries als Heilmittel, um mit und in der Entfremdung zu leben, eine Kunstform: den Roman. Der danach nichts anderes ist als ein Medium, um sich
– erzählend – seiner selbst zu vergewissern. Robert Musil hat in „Der Mann ohne Eigenschaften“ dem Erzählen, der medialen Tröstung, ähnliche Wirkungen zugeschrieben: Wenn man sein Leben – ganz wie beim Wärmestrom der Erzählungen einer Amme – auf die schlichten Reihungen des ... und dann bringen könne, werde einem so wohl, als ob auch am Nordpol einem die Sonne auf den Bauch schiene.

In den letzten vierzig Jahren war für viele Menschen sicher das Fernsehen eine bildergesegnete Amme, eine nährende Mutter, die es gestattete, auch bei den schlimmsten Katastrophen sich eingebettet zu fühlen in einer Welt linearer Zusammenhänge und plausibler Deutungen. Es gab dort schließlich Autoren, Regisseure, Chefredakteure, Nachrichtenpräsentatoren und viele andere, die den Erzählfaden immer weiter spannen, in verlässlicher Präsenz und Potenz.

Und für viele gilt: Selbst die alltäglichen Realitäten, die wirklichen Wirklichkeiten, wurden und werden in dieses große, inzwischen weltumspannende Erzählnetz der großen Medienmaschine aufgenommen und dort in einen Wärmestrom des Rituellen transformiert: so als Scripted Reality, als Soap, als Docu-Fiction.

Problematisch nur: Je mehr die Medienmacher und die Mediennutzer vom Medien-Mehr brauchten und brauchen, umso stärker unterliegen die Deutungsprodukte und Erklärmuster dem üblichen inflationären Mengen-Gesetz, schlicht also: der Entwertung. Auf einmal werden dann die Myriaden der medialen Angebote ganz anders gesehen und beurteilt: als falsche Versprechungen, als doppelbödiger Schund, als drittklassige Verführungen. Das, was als Reality so unauffällig-banal in der Praxis wie pompös-offiziös als Anspruch antrat und sich ausbreitete: Es wurde und wird zunehmend als doppelseitige Falschmünze erkannt. Oder besser, seine Prägung als reines Spielgeld tritt offensichtlich zutage – eine Monopoly-Währung, die den Arrangeuren hohe Rendite einbringen sollte und soll, gleichgültig, zu wessen Kosten es ging und geht.

Und zugleich werden ausgeklügelte Kunstwelten als neue Paradiese für die kleinen und großen Fluchten hergestellt – was im voll sich entwickelnden Zeitalter der digitalen Zeichenbretter und Baukästen schließlich per Mausklick leicht zu haben ist. Alles ist vorhanden im Wunderland des Second Life, alles auf MP3 komprimiert, alles in der Scheinemphase des Du-bist-Röhre versammelt, alles mit dem Universalnetz der Suchmaschinen abzuschöpfen, alles in Facebook aufgehoben, Freundschaften und Gemeinschaft inklusive: Das scheint die Alternative.

Eine Alternative, die auch alle klassischen Medienwelten umfasst. So lesen wir täglich von Bibliotheks-Mutationen, von Pilotprojekten der Wissens- und Informationsverwandlungen. So soll die Bayerische Staatsbibliothek in wenigen Jahren komplett per Internet-Suchmaschine verfügbar sein. Je größer und in sich komplexer allerdings die Bausteine werden, aus denen sich die Welt der Moderne zusammensetzt, gespiegelt wiederum durch eine ins Gigantische vergrößerte und zudem permanent ausstoßende Medienmaschinerie, umso größer wird gleichzeitig die Sorge, dies alles nicht mehr verstehen zu können, vom Bewältigen ganz zu schweigen.

Doch gleichwohl, wie komplex die Sachstände auch sein mögen, wie fremd uns Entwicklungen sind, wie weit entfernt sie zu sein scheinen von unserer Lebenspraxis und unseren Handlungsoptionen: Ohne mediale Vermittlung wären wir noch viel stärker nichts als potenzielle passive Zuschauer, erduldende Objekte, bloße Zufallsgeneratoren. Das hat sich eindrucksvoll bestätigt während der Finanzkrise, einer Krise, die sicher auch deshalb so über alle Maßen dimensioniert war, weil zuvor die kritische Wachsamkeit und die finanzwirtschaftliche Vorstellungskraft der Medien nicht einmal im Ansatz taugte, um zumindest als Frühwarnsystem zu wirken. Wir sahen: Komplizenschaft statt nüchterne Analyse, opportune Bewunderung von scheinbar erfolgreichen Akteuren statt kritischer Distanz, eingebundene Nähe statt kühler Einordnung und unerschrockener Kommentierung.

Doch gibt es natürlich auch eine andere Seite der Münze. Und auch das gehört zu den Grundmustern der Moderne, ist eingefangen beispielsweise im berühmten Schluss Vers eines Gedichtes von Charles Baudelaire. Der Dichter, Zauberer des Medialen, spricht dort mit dem Leser. Und was ist danach ihr gemeinsamer Spiegel, in brüderlicher Erkenntnis? Nichts Schrecklicheres als der „ennui“ – Langeweile, Überdruss.

Was nichts anderes heißt, als dass der Kern des ewigen Spiels ausgehöhlt wird. Die eingebauten Zynismen werden von Mal zu Mal sichtbarer, das Prinzip gebärdet sich so nackt wie es ist, allen feinen Deutungen zum Trotz. Auf einmal schauen immer mehr Menschen nur noch angewidert dem Treiben und den Erscheinungen zu, ekeln sich vor dem inszenatorischen Charakter, auf welcher Ebene auch immer – vom Schaugeschäft bis zur Politik – und wollen die politische wie die mediale Bühne am liebsten abschaffen. Was sie dabei übersehen: Natürlich gibt es Unterschiede in den medialen Leistungen, sehr große sogar.

Sprich: Da gibt es die großen Presse-Publikationen, überregional, die investieren in redaktionelle Ressourcen, in Recherche, in Dokumentationsgenauigkeit, in Darstellungsumfang und in Darstellungsvielfalt. Da gibt es die Dossiers, die komplizierte Sachverhalte differenziert darstellen, die sorgfältig abwägen, wo nicht das erste Wort schon mit Scheuklappendunkelheit niedergeschrieben wird. Da gibt es die Fachpresse, da gibt es Bücher, Foren, Symposien. Und da gibt es auch Fernseh- und Radiosendungen, in gar nicht geringer Zahl, welche genaue und weiterführende Anschauung bieten, welche audiovisuelle Bereicherung bieten, ihre Möglichkeiten ausreizend.

Natürlich, die Welt der elektronischen Medien gehorcht ihren eigenen Ordnungen, die auch mit den Existenzgründen der Systeme zu tun haben. Grob gesprochen: mit einem gesellschaftsdienlichen Auftrag einerseits und mit einem reinen Renditeziel andererseits. Ebenso klar tritt zutage, dass diese Grenze auch durchlässig ist, dass das Gesetz der kommunizierenden Röhren überall dort nicht außer Kraft gesetzt ist, wo ähnliche Zielsetzungen miteinander konkurrieren: die der Zahlenoptimierung beim Publikum.

Und natürlich ist eine ganz neue Informationswelt entstanden, die auf den ersten und auch auf den zweiten Blick ganz anders ist als die noch vor zehn Jahren herkömmlichen und dominierenden Medien; eine Welt, die sich auszeichnet durch eine unaufhörliche Zirkulation von einer schier unübersehbaren Anzahl von Informationen.

Informationen, die zunächst keiner Hierarchie der zugemessenen Bedeutung und der hierarchisch aufgebauten Verantwortung entsprechen: Das Netz ist in seinem Grundcharakter anarchisch, chaotisch, unübersichtlich. Was auch heißt: Die Genauigkeit und die Seriosität der Informationen (um es neutral zu sagen) ist erst einmal nichts als eine Wunschvorstellung der Nutzer. Relevanz, Glaubwürdigkeit, Verantwortung: Das ist in weiten Teilen der Netzinformationen eine Fremdwort-Trias.

Und doch: In diesem Netzprinzip steckt auch eine ungeheure Stärke: nämlich ohne innere Restriktionen, ohne falsche Rücksichtnahmen, ohne institutionelle Einengungen publizieren zu können. Interaktion, Partizipation: Keine Frage, das sind starke Faktoren und Qualitäten des stets offenen Netzes, ebenso wie die in weiten Teilen große Zugänglichkeit. Wer hatte früher Zugang zu Bibliotheken, zu Filmen, zu Akten, zu Verwaltungsvorgängen und -dokumenten? Ich weiß es noch genau: Ein Grün-oder Weißbuch zu beschaffen aus dem Eurobunker in Brüssel, das war Wochen- und Knochenarbeit, ebenso wie der schlichte Einblick in organisatorische und personelle Strukturen nahezu aller öffentlichen Einrichtungen.

Hier wie an vielen anderen Punkten tut sich mit dem Netz tatsächlich eine Welt auf des Info-Mehrwertes, auch der Demokratisierung von Wissen, der Förderung von Austausch, von Vergleich, von Bewertungsmöglichkeiten, auch einer Förderung des sozialen, des politischen, des wirtschaftlichen Handelns und der eigenen Kultivierung. Aber zugleich wird etwas anderes produziert und transportiert: nämlich die rasante Entgrenzung. Denn mit jedem Klick tun sich potenziell Milliarden von Infowelten

auf – was dann wiederum, im dialektischen Umschlag, zur Inflationierung und zur Steigerung der Unübersichtlichkeit führt; nicht zuletzt, weil all diese Info-Einheiten in der schieren Größe des Netz-Universums sich berühren, sich verschränken, sich gegenseitig durchdringen, sich auch auflösen; dies selbst dann, wenn sie doch anfangs konsistent scheinen und Substanz haben, wenn sie handfeste Qualitäten aufweisen, wenn sie sonst nie Les- oder Sichtbares zutage fördern.

In der Inflationierung verliert die vielfach gerühmte Schwarmintelligenz ganz schnell jegliche Richtung und jeglichen Bezugspunkt: mit der logischen Folge für die Akteure auf allen Ebenen, ohne Orientierung zu sein, hilflos zu wirken. Aber einsichtig ist auch: Ein anderes, ein verordnetes Grundmuster kann es nicht geben – denn die sinngebenden Großordnungen sind nicht mehr zu haben. Deshalb müssen wir uns im System einrichten, müssen es herrichten als Erkenntnisinstrument. Genau hierin liegt eine große Chance: Es braucht offen sichtbare Umschlagpunkte, es braucht noch nicht festgelegte Baustellen von neuen Plattformen (und die bilden sich gerade, als Super-Hybriden, als digital beförderte All-Vermischungen), um sich neu zu vergewissern, was die Ziele des eigenen medialen Handelns – im Herstellen, im Verbreiten, im Wahrnehmen – ausmacht und bestimmt.

Ohne ein weitergehendes Bild von sich und der Welt (und allen vielfältigen Beziehungen dazwischen) würde unsere eigene menschliche und mitmenschliche Dimensionalität verflachen – zusammengeschrumpft auf den alleinigen Mechanismus von Angebot und Nachfrage, von Stärke und Schwäche. Eine dagegen sich aufbäumende Leistung ist unter Kultivierung zu verstehen, individuell und gesellschaftlich. Und hiervon dürfen die Medien – auch jene, welche sich den schlichten Verkaufsgesetzen verdanken – nicht dispensiert werden.

Dies wiederum setzt voraus, dass es noch eine Vorstellung von Allgemeinheit, von Gesellschaft, von Öffentlichkeit gibt – schlicht: von den Res publica. Und zur Vorstellung muss der politische Wille gehören, diesen öffentlichen Raum zu gestalten und auch gegen einengende und widrige Umstände zu bewahren, wenn es denn notwendig ist. Die UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt ist immerhin ein (nur unzureichendes?) Signal, dass auch international dieser Gedanke noch nicht obsolet geworden – zumindest aber, dass er als Ideal wiederentdeckt wird. Mit einem Kernge­danken: Dass man Bilder vom Menschen, vom menschlichen Zusammenleben haben sollte, bevor man Bilder der Menschen und der Dinge in und um die Welt schickt. Mit anderen Worten: Deutung sollte Voraussetzung der Botschaft sein – damit weitere Deutung möglich ist.

Natürlich bestimmt auch Angst vor Pathos die Haltung, wenn es jetzt darum geht, neue Linien zu zeichnen in der medialen Hybridlandschaft mit ihren verflochtenen Wertschöpfungsketten und den verpixelten Parallelwelten aus Milliarden von Individualbotschaften, mit denen Menschen ihre Existenz medial aufladen wollen: Ich sende, also bin ich. Dass dies jedoch allein noch nicht ausreicht, um Sinn-Räume zu schaffen, scheint doch ins öffentliche Bewusstsein zurückzukehren. Und damit zu einer Sache der Res publica zu werden.

Christina Weiss, Ex-Medien- und Kulturbeauftragte des Bundes, hatte dies in ihrer schönen Schiller-Rede 2004 klar formuliert. Danach ist eben die Vorstellung der ästhetischen Erziehung keine leere Formel, sondern ein ganz und gar lebendiger Auftrag.

Schiller selbst war dabei nicht blauäugig, sondern hat den unauflöslichen, zirkelhaften Zusammenhang zwischen Idee und Praxis klar benannt, indem er die Frage stellte: „Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein?“ Und weiterfragte: „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?“

Die Antwort war für ihn einfach: Die Kunst sollte das ausdrücken und hervorbringen, als Werkzeug mit unsterblichen Mustern, um schöne und lebbare Konventionen vorzuzeigen, welche der Willkür einen zivilisierenden Entwurf des eigenen Ich und der Gesellschaft entgegensetzen.
Wenn man Kunst unter den heutigen Möglichkeiten weiter übersetzt, dann gehören die Medien in allen ihren Ausprägungen unbedingt dazu. Im Zentrum steht dabei noch das Fernsehen, das aber sicher abgelöst werden wird durch eine in ihrer Dimension noch nicht absehbare Mischung aus fein adressierbaren audiovisuellen Inhalten.
Und dann darf ganz einfach gefordert werden, dass sie (die Macher, auf welcher Ebene und mit welchem Organisationsgrad auch immer: also bis zur YouTube-Monade) den Zirkel von theoretischer und praktischer Kultur nicht vergessen machen wollen, sondern dass sie auf dessen reflektiertem Vorschein bestehen – und damit auf einem Bild des reflektierenden Menschen. Was für mich organisatorisch und praktisch heißt: Es sollte, besser: es muss weiter Institutionen geben, die unabhängig vom kommerziellen Druck die bestmögliche öffentliche Kommunikation herstellen, die als Sachwalter der Vielfalt und als Treuhänder der Glaubwürdigkeit arbeiten – in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Es geht mithin um eine gebundene Freiheit, um eine Öffentlichkeit, die einer übergeordneten Aufgabe verpflichtet ist und nicht einem wie auch immer gearteten Partikularinteresse. Ein Idealbild, gewiss, aber ohne einen darauf gerichteten Willen kommen wir nicht aus.

Genau dies ist dann Dienst in der Gesellschaft, an der Gesellschaft, für die Gesellschaft, mit einem Mehrwert, der nie einfach ungefragt und unabhängig existiert, sondern ständig neu geschaffen wird, geschaffen werden muss, in einem nie abgeschlossenen und sich ständig verändernden Prozess.
Es muss gelingen, diesen Prozess dauerhaft und gesellschaftlich gut verankert zu etablieren. Denn er ist notwendige Voraussetzung einer Bürgergesellschaft, die sich nicht vom ökonomischen Egoismus, sondern von der steten Verantwortung für das Allgemeine leiten lässt. Einer Bürgergesellschaft, die auf einem selbstbestimmten und selbst bestimmenden Menschen besteht. Eines Menschen, der immer und notwendigerweise auf Medien angewiesen ist, weil eine Welt ohne Vermittlung schlichtweg nicht denkbar ist. Gelingende Vermittlung wiederum ist Voraussetzung für Orientierung – die ohnehin nur im Plural zu denken ist, als Ergebnis vielfältiger und sich ständig selbst korrigierender Steuerungsprozesse. Auf der Grundlage von Bildern und Worten, die uns die Sinne öffnen. Und Sinn vermitteln.

Wenn allenthalben Bilder, Töne und Texte so teuer (oder ganz billig) sind: Dann sollen wir selbst uns nicht für wohlfeil halten. Und uns schon lange nicht billig verkaufen (lassen). Das ist für mich der Kerngedanke des Public Service.

Selig sind die Zeiten, in denen das nicht vergessen wird.


Die Leitmedien der Medienmacher, Dr. Daniela Kraus, MEDIENHAUS Wien abspielen
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An Evaluation of Public Broadcasting in the International Context, Anthony Mills, IPI Press Freedom Manager abspielen
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