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Das Archiv - Ihre Vorbeugung gegen Gedächtnisverlust

#Herbert Hayduck, Leiter der ORF-Archive


„Geschichtsforschung ist nichts anderes als die ausdauernde Befragung der Vergangenheit im Namen der Probleme und Wissbegier der Gegenwart.“ — Fernand Braudel

Aktive Gedächtnisleistung ist eine der Grundbedingungen für selbstbestimmtes menschliches Leben, prägend für Bewusstsein und Identität – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Der kritische Umgang mit Vergangenheit ist eine der Grundlagen für produktive Auseinandersetzung mit der Gegenwart, Ausgangspunkt für gesellschaftlichen Diskurs und produktive Reibungsfläche für gesellschaftliche Weiterentwicklung.

Die neuere Gedächtnisforschung weist darauf hin, dass Gedächtnisleistung nicht wie früher angenommen aus der unveränderlichen Reproduktion eines feststehenden Faktenkanons besteht, sondern aus dem aktiven und dynamischen Bezug zwischen Ereignissen der Gegenwart und historischen Erfahrungen, Beispielen und „Vorbildern“. Solche Bezüge und Vergleichsmöglichkeiten lassen sich nicht nur in mündlicher Tradition sicherstellen; langfristig und generationenübergreifend braucht es dazu systematische „Spurensicherung“: Sammlung, Dokumentation und langfristige Erhaltung von Dokumenten mit dem Ziel ihrer aktiven Wiedernutzung – Archivarbeit im klassischen Sinn mit den jeweils modernsten verfügbaren technischen Methoden.

Das elektronische Gedächtnis des Landes
Das Archiv des ORF ist ein lebendes und täglich wachsendes elektronisches Gedächtnis, das die Geschichte Österreichs und weit darüber hinaus seit 1955 (im Radiobereich sogar seit 1924) in all ihren Aspekten dokumentiert – vom alltäglichen Leben zu politischen Umbrüchen, von kulturellen Sternstunden zu sportlichen Höhepunkten, von gesellschaftlichen Krisen zu technologischen Durchbrüchen, von Unglücken und Katastrophen zu individuellen Glücksmomenten. 400.000 Stunden an archivierten Fernsehsendungen und rund 200.000 Stunden an Radioaufzeichnungen – ein Speicher für Millionen einzelner audiovisueller Geschichten, aus denen Geschichte erzählt werden kann – mit immer neuen spannenden Perspektiven und Gegenwartsbezügen.

Die tägliche, konsequente Archivierung und Dokumentation aller gesendeten Medieninhalte sichert die Spuren der Gegenwart für spätere Auseinandersetzungen mit individuellen oder kollektiven gesellschaftlichen Entwicklungen in kritischer, aufklärender oder einfach unterhaltender Form. Die Beweissicherung erfolgt kontinuierlich, die Quellen werden laufend für späteren Einsatz aufbereitet. Der intellektuelle Betrieb dieses Gedächtnisspeichers und die aufwändige kostenintensive Sicherung der Medieninhalte über alle technologischen Veränderungen hinweg, stellen wesentliche Leistungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Gesellschaft dar.

„Tradition ist ... nicht das Bewahren der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“ — Jean Jaures
Jede Verwendung von historischen Bildern und Tönen schafft intuitiven Zugang zu Veränderungen, macht Entwicklungen verständlich und Einordnungen möglich. Zeitlicher Abstand – egal wie groß – und historische Distanz helfen beim Verständnis von Phänomenen der Gegenwart. Das Wiedersehen oder -hören von Medieneindrücken, die der oder die Einzelne selbst einmal erlebt hat, schafft unmittelbaren emotionalen Zugang – weit über nostalgische Heimwehgefühle hinaus. Für Nachgeborene unterstützt die direkte Konfrontation mit Vergangenheit in Form authentischer (Medien-)Dokumente den kritischen und aufklärerischen Umgang mit historischen Ereignissen und beugt unreflektierter Fortsetzung oder Wiederholung begangener Fehler vor. Fehlt das Gedächtnis, droht das traumatische Verlorensein in einer geschichtslosen „Schönen Neuen Welt“ aus Wiederholungsschleifen – dem täglichen immer gleich grüßenden Murmeltier. Wer nicht bereit ist zu lernen, wird gezwungen sein, Vergangenes immer wieder zu erleben.

Künstliche Intelligenz – smart memory?
Wir gleiten kaum merklich, aber konsequent in eine Lebenswelt der totalen Gegenwart. Unsere vernetzten Kommunikationswerkzeuge bieten und provozieren ununterbrochene Präsenz; sie ziehen unsere Aufmerksamkeit immer stärker auf sich und fesseln uns an den „Pflock des Augenblicks“ (Friedrich Nietzsche); nicht den Augenblick, zu dem wir sagen „Verweile doch, du bist so schön … “, nicht an den achtsamen, buddhistischen Gegenwarts-Moment, sondern an einen Dauerzustand der „Großen Gereiztheit“ (Bernhard Pörksen) – eingespannt in eine Überfülle an Reizen und Empfindlichkeiten. Eine Überfütterung mit Informationen und Eindrücken, die alle Verarbeitungsmöglichkeiten überfordert und grassierende Gedächtnisschwächen nach sich zieht, nicht immer ohne Absicht. Gedächtnisleistung wird an Maschinen und Systeme ausgelagert – in Mengen und Dauerhaftigkeiten, die alle menschlichen Fähigkeiten überschreiten und sich transparenten und demokratisch gesteuerten Regulierungen entziehen.

Unsere beliebten Kommunikationssysteme schöpfen alle verfügbaren Daten von und über uns konsequent und kontinuierlich ab und speichern diese ohne Ablaufdatum. War die Kunst des „Profiling“ vor wenigen Jahren noch eine hochspezialisierte Disziplin der Kriminalistik, so ist daraus eine alltägliche, millionenfach angewandte Datentechnik geworden. Unsere „Profile“, all unsere intransparent gespeicherten digitalen Spuren, bilden die Basis für „Recommender“-Systeme, die Empfehlungen zur „besseren“ Befriedigung unserer Interessen geben; immer entlang unserer oder ähnlicher gelagerten bisherigen Vorlieben und Verhaltensweisen. Wir navigieren durch die Datenwelt, unsichtbar geleitet von Algorithmen, die Zuwendung simulieren und uns mit sicherer virtueller Hand in Echokammern und Filterblasen steuern, wo wir im Interesse des steigenden Umsatzes mit bestätigendem Feedback versorgt werden.

Der große Unterschied – journalistische Haltung
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen schlägt in seinem neuesten Buch „Die große Gereiztheit“ Rezepte gegen die herrschende Übererregung in Internet-Foren und sozialen Medien vor. Eines davon ist die grundsätzliche Anwendung redaktioneller Haltung in der gesellschaftlichen Kommunikation insgesamt: Die klassischen Tugenden und Werkzeuge des Qualitätsjournalismus sollten zu Allgemeingut werden: „Doublecheck“ und gesunde Skepsis statt spontanem Glauben an Behauptetes, Einbeziehen von anderen Standpunkten, das Hören der anderen Seite. Diese redaktionellen Grundhaltungen sollten dabei helfen, die ungefilterte Verbreitung von „Fake News“ und „alternative facts“ zu entlarven und kollektive Überreiztheiten einzugrenzen.

Die im Archiv des ORF gespeicherten Medieninhalte haben diesen Filter der journalistischen Qualitätskontrolle passiert und waren im Rahmen ihrer Veröffentlichung auch noch dem sehr effizienten Kontrollmechanismus der öffentlichen Diskussion unterworfen – seltene Fehler in der journalistischen Arbeit blieben so nie unbemerkt. Die Bestände des ORF-Archivs bilden damit – trotz oder gerade wegen ihrer jeweiligen Zeitbezogenheit – eine ganz besondere Quellensammlung zur Zeitgeschichte. Die journalistische Nutzung dieser Sammlung wird auch im operativen Geschäft des ORF-Archivs gelebt; in der Produktion neuer Sendungsformate direkt aus dem Archiv heraus. Archivredakteur/innen haben im Jahr 2017 über 1.200 Sendeminuten an neuem Fernsehprogramm aus attraktiv zusammengestellten Archivcontents gestaltet, ergänzt durch neugedrehte Teile. Daneben wurden fast 8.000 Minuten an Archivsendungen für den Kultur- und Informationssender ORFIII von Archiv-Redakteur/innen programmiert. Im Rahmen des „Multimedialen Archivs“ nehmen Archiv-Mitarbeiter/innen auch redaktionelle Aufgaben im Hörfunk wahr: ca. 25.000 Sendeminuten an Musikprogramm wurden im Jahr 2017 von Archivredakteuren für den Kultursender Ö1 programmiert; für den zeitgeschichtlichen Programmschwerpunkt „März 1938 – der Anschluss“ wurden mehr als 15 Sendungsformate durch einen Mitarbeiter des Audioarchivs mitgestaltet.

Digitale Workflows
Das ORF-Archiv ist eng in den täglichen Produktionsbetrieb der Redaktionen eingebunden; die Archivdatenbanken sind tief in die Produktionssysteme im Fernsehen und Radio integriert. Täglich werden durchschnittlich 300 Archivrecherchen abgewickelt, ein laufend wachsender Anteil davon bereits im Selbstbedienungsbetrieb durch die Redaktionen; eine webbasierte Rechercheoberfläche ermöglicht den direkten Zugriff auf Beschreibungsdaten und Medieninhalte unmittelbar an den Redaktionsarbeitsplätzen. Parallel dazu werden täglich durchschnittlich 50 Audiofiles und 750 Videofiles in die digitalen Massenspeicher des Archivs neu aufgenommen. Mit dem Aufbau dieses digitalen Bestandes aus der laufenden Produktion wurde vor mittlerweile sechs Jahren begonnen. Der jährliche Datenzuwachs beträgt durchschnittlich 1.100 Terabyte. Die auf Videobändern gelagerten älteren Bestände, zurückgehend bis ins Jahr 1955, werden in einem großformatig auf zehn Jahre angelegten Digitalisierungsprojekt ebenfalls in die digitalen Massenspeicher integriert. Jährlich werden ca. 30.000 Programmstunden digitalisiert, der daraus resultierende Datenzuwachs beträgt rund 850 Terabyte/Jahr; der Abschluss ist für 2025 geplant.

Public Access – step by step
Die Innovationseffekte der Digitalisierung werden auch für die Erweiterung der öffentlichen Zugangsmöglichkeiten zu den Beständen des ORF-Archivs im Sinne des Publikums genutzt: Die im Rahmen des Bundesarchivgesetzes festgelegte Möglichkeit des öffentlichen Zugangs zum ORF-Archiv für private Nutzungen aller Art ist gängige Praxis und wird derzeit ca. tausend Mal pro Jahr wahrgenommen, die Tendenz ist steigend. Die gesamte Sammlung des ORF-Archivs steht an mittlerweile mehreren österreichischen Universitäten für die direkte Recherche und Nutzung für ausschließlich wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung. Diese Möglichkeit wird von Studierenden und Lehrenden laufend stärker genutzt und befördert merklich die Verwendung audiovisueller Materialien als Quelle für wissenschaftliche Forschung und Lehre. Die vom Publikum sehr gut angenommene ORF-TVthek dient neben der Möglichkeit zur zeitversetzten Nutzung des aktuellen Fernsehprogramms auch der dauerhaften Veröffentlichung von ausgewählten Archivmaterialien. In mittlerweile mehr als 30 Themenarchiven zu zeitgeschichtlichen Schlüsselereignissen stehen journalistisch kuratierte Sammlungen von Archivinhalten zur zeitlich unbegrenzten Nutzung zur Verfügung. Ein Werkzeug zur Bildungsvermittlung im schulischen Zusammenhang, aber auch weit darüber hinaus. Der Ausbau dieser TVthek-Themenarchive ist ein deklariertes strategisches Ziel und findet laufend statt. Über die beiden Portale „flimmit“ und „fidelio“ werden ausgewählte Archivinhalte aus dem Musik- und Unterhaltungsbereich in Form entgeltlicher Abonnements kostengünstig zur On-demand- Nutzung angeboten.

Darüber hinaus stehen weitergehenden Öffnungen des ORF-Archivs für das Publikum einerseits urheberrechtliche Beschränkungen andererseits auch die sehr restriktiven gesetzlichen Regelungen entgegen, denen der ORF im Bereich von Online- Aktivitäten unterworfen ist. Hier liegt öffentlich-rechtliches Potenzial des ORF, dessen Nutzbarmachung für die Öffentlichkeit ein klares Gebot im Rahmen der medienpolitischen Entwicklung der kommenden Jahre sein sollte.


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© Foto: ORF
Analoge Vergangenheit im digitalen Raum
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© ORF/Milenko Badzic
Geschichte(n) aus 1.001 Sendung
Public Value Bericht 2015/16: Mag. Herbert Hayduck und Camillo Foramitti – ORF-Archiv