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Die Macht der Bilder

#Oliver Rathkolb, Universität Wien


Der ORF hat einen wichtigen Anteil an der Konstruktion einer eigenständigen österreichischen Identität, dies zeigt sich anhand der Entwicklung der Landesstudios ebenso wie an der Bedeutung der Sportredaktion - aber letztlich eigentlich in allen Programmsparten. Und genauso im Blick zurück, in die mentale Ausgangslage der österreichischen Gesellschaft nach Abschluss des Staatsvertrages.

Umfragen vom April 1956 dokumentieren, dass 46% der Österreicher/innen glaubten, die Österreicher/innen gehörten zum deutschen Volk. Bei den 16- bis 39-Jährigen bekannten sich gar 51% als Deutsche. Es ist somit kein Zufall, dass Hugo Portisch, wenn man so will, journalistische und öffentliche "Speerspitze" für einen aus den Parteiproporzzwängen befreiten ORF, auch ein einsamer Rufer für die österreichische Identität gewesen ist. Dieses Anliegen, mehr gelebte Demokratie, Zivilcourage und Identitätsbildung fallen letztlich bei dem Rundfunkvolksbegehren 1964 zusammen - das gegen massive Widerstände und Behinderungen durch die beiden großen politischen Parteien ÖVP und SPÖ durchgeführt wurde.

Im letztlich durch das Begehren geänderten ORF präsentierte bereits fünf Tage nach seiner Wahl, am 14. März 1967, Generalintendant Gerd Bacher seine Vorstellungen von der künftigen Ausrichtung und Identität des Rundfunks in einer Pressekonferenz: "Der Rundfunk hat der geistigen Provinzialisierung Osterreichs entgegenzutreten. […] Bis zum heutigen Tag erfüllt der Rundfunk weder quantitativ noch qualitativ das Bedürfnis nach Information, Kommentar und Meinungsbildung in allen Sektoren des öffentlichen Lebens. Damit versagt er in seinen wesentlichsten Pflichten gegenüber der Demokratie: in der objektiven und umfassenden Unterrichtung der Staatsbürger. Er versagt auch in der Ausübung öffentlicher Kontrolle, die das Kriterium der Demokratie schlechthin darstellt. Der Rundfunk kann einen Beitrag zur Fundamentaldemokratisierung leisten."

Gerd Bacher wusste damals noch nicht, dass er letztlich - gegen seine persönliche politische Überzeugung - zum besten Wahlkampfmanager Bruno Kreiskys werden sollte und letztlich dessen Motto mitgetragen hat, das dieser von dem französischen Politiker Eduard Herriot entlehnt hatte: "Wer die Demokratie stabilisieren will, muss sie in Bewegung halten." Sowohl Kreisky als auch Bacher waren natürlich auch Männer in ihrem Widerspruch, und Peter Turrini hat dies einmal bezüglich des ORF-Generalintendanten auf den Punkt gebracht "Ich habe Gerd Bacher immer als ein Geschenk für meinen Geist betrachtet, vor allem deshalb, weil ich höchst selten seiner Meinung war."

Demokratie ist Diskussion
Heute sehen wir im ORF nach wie vor häufig nur das, wie es Tarek Leitner in dem Buch formuliert hat, "vielzitierte Hochamt der Demokratie", wenn die erste Hochrechnung nach einer Wahl präsentiert wird. Aber davor bietet der ORF vor allem seit der Reform 1967 in zahlreichen Sendeformaten Möglichkeiten, sich über das politische Angebot und die politischen Parteien oder diversen Bewegungen und Spitzenkandidat/innen zu informieren. In der Vergangenheit war der ORF dann immer am besten demokratiepolitisch unabhängig aufgestellt, wenn die politischen Parteien oder einzelne Parteienvertreter/innen besonders wütend gegen einzelne Journalistinnen und Journalisten gewütet oder die Geschäftsführung attackiert haben. Unzufriedenheit ist ein unangenehmer, aber verlässlicher Gradmesser demokratiepolitischer Verantwortung. Diskussionssendungen haben im ORF eine wichtige demokratiepolitische Funktion wie beispielsweise Helmut Zilks "Stadtgespräche", die "Runde der Chefredakteure", der "Club 2" und Sendungen wie "Zur Sache", "Betrifft", "Offen gesagt", "Runder Tisch" und schließlich "Im Zentrum" eindrucksvoll beweisen.

Die politischen Formate und Informationssendungen sind ein wichtiger Teil der politischen Bildung der österreichischen Wählerinnen und Wähler - und sie werden von dem größten Schatz getragen, den der ORF besitzt: von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das zeigt sich auch im Buch "Die Macht der Bilder", das Beiträge von und über Pionier/innen der Vergangenheit ebenso enthält wie von und über Persönlichkeiten der Gegenwart, die engagiert die Fackel der kritischen Aufklärung weitertragen. Gerade in so turbulenten Zeiten, wo täglich Wellen an Fake News und Weltverschwörungstheorien auf uns alle niederprasseln, und permanenter Weltuntergangsstimmung, in Ruhe dagegen zu halten, kritisch und umfassend zu recherchieren und unabhängiges politisches und gesellschaftliches Orientierungswissen anzubieten, dies ist wohl eine wirkliche Goliaths-Aufgabe, die der ORF immer versucht hat zu leisten - manchmal besser, manchmal schlechter.
Demokratie in Gefahr?

Von Tag zu Tag wird diese Zielsetzung schwieriger, u.a. aufgrund der extremen Informationsdichte und der Vielfältigkeit an Nachrichten und der steigenden Manipulationsmöglichkeiten durch Algorithmen und perfekt kommunizierter Fake News bzw. sogenannter "Message Control" und dem kommerziellen Gegenüber der Informationskontrolle, dem "Public Relations Journalism". Nicht nur dadurch ist unsere parlamentarische Demokratie, die auf gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, auf Minderheitenrechten beruht, in Bewegung, mitunter in Gefahr. Noch ist nicht klar, ob wir uns nicht doch eines Tages einem autoritäreren Modell annähern, gemäß dem Diktum von Carl Schmitt, dem Kronjuristen der Nationalsozialisten, der heute wieder oft positiv zitiert wird: Die Diktatur sei die perfekte Demokratie durch die Akklamation des Führers. Auch die zentrale emotionale Basis unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Identität, ist in Wallung und im Fluss.

Die Konstruktion einer eigenständigen österreichischen kleinstaatlichen Identität ist gelungen - das zeigen alle Umfragen. Als Folge von Migrations- und Fluchtbewegungen sind allerdings wieder Identitätsfragen ins Zentrum medialer Berichterstattung und gesellschaftlicher Debatten gerückt. Hier kommt auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ORF in der Zukunft, gerade in dieser digital auf den Kopf gestellten Welt, eine noch größere Bedeutung zu als in der Vergangenheit. Heute muss immer wieder die im Vergleich zu den 1960er Jahren manchmal extrem aggressive kleinösterreichische Identität wieder zurückgedrängt und in Richtung Mehrfachidentitäten geöffnet werden, in Richtung Europa und der Welt. Für mich ist der ORF das zentrale Fenster in die globale Entwicklung - ohne ORF und seine internationalen Sendungen und sein vielfältiges Informationsangebot wären wir wohl völlig verloren. Auch hier sind seine Leistungen zu Orientierung, Information, Analyse und Interpretation gefordert. Generaldirektor Alexander Wrabetz hat zu Recht in seinem Beitrag im Buch "Die Macht der Bilder" gemeint, dass "wir ein Gegenprogramm formulieren" müssen, auf eine nicht unrealistische Zukunftsprognose von Eric Schmidt von Google. Er hat gemeint: "Heute sind wir so weit, dass wir Ihnen auf Fragen die richtigen Antworten geben können. In fünf Jahren sind wir so weit, dass Sie auf jede Frage, die Sie stellen, die genau für Sie maßgeschneiderte Antwort kriegen. Und in zehn Jahren ist unser Ziel, dass wir Ihnen sagen können, welche Frage Sie stellen wollen." Der ORF ist für mich in seiner jetzigen Form der Garant für ein umfassendes Informations-, Kultur- und Unterhaltungsangebot, das den Österreichern und Österreicherinnen hoffentlich mehr Mut geben wird, die Zukunftsherausforderungen zu bewältigen und der ihnen auch in vielen Bereichen hoffentlich jene Ängste nimmt, die derzeit im gesellschaftlichen Handeln dominieren. Denn diese Ängste verweisen auf ein Paradoxon: Während unsere Großmütter, Großväter und Eltern dieses Österreich, diese Zweite Republik unter schwierigsten Rahmenbedingungen aufgebaut und im Kalten Krieg einen in der bisherigen langen Geschichte unvorstellbaren Wohlstand erarbeitet haben, fürchten sich ihre Enkel/innen heute in einem der reichsten Industrie- und Wohlfahrtsstaaten vor der Zukunft. Daher hoffe ich sehr, dass der ORF die Herausforderungen der Zukunft aufgreifen wird und seinen Beitrag mit seinen exzellenten Journalistinnen und Journalisten so leisten kann, dass wieder kritischer Zukunftsoptimismus dominiert.

Zum ersten Mal in der Geschichte des ORF gibt es eine umfassende Bestandsaufnahme aller wesentlichen Sendeschienen des ORF seit 1967 bis herauf in die Gegenwart - inklusive der Vorgeschichte des Fernsehens seit 1955.

Spiritus Rektor dieses Projekts ist Andreas Novak, der auf Basis von zahlreichen Interviews mit allen bisherigen Intendanten seit Gerd Bacher und wichtigen Sendungsgestaltern sowie mit zahlreichen Beiträgen von Sendungsverantwortlichen ein in vielen Bereichen sehr kritisches Kaleidoskop der österreichischen Fernsehgeschichte komponiert hat. Dabei werden offen zahlreiche Tabuthemen im Bereich der politischen Geschichte, aber auch der Kultur- und Mediengeschichte angesprochen.

Andreas Novak hat nicht nur einzigartige Quellen durch seine Interviews und Beitrage geschaffen, sondern es ist ihm überdies gelungen viele ORF-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu 200 hintergründigen Artikeln und Kommentaren zu motivieren. Durch die intensive und klug ausgewählte 1.800 Fotos aus dem ORF-Archiv durch Martin Majnaric entsteht eine österreichische Kulturgeschichte der besonderen Art, die weder nostalgisch noch zukunftsfeindlich dargestellt wird, aber letztlich deutlich macht, dass der ORF nicht nur gesellschaftliche Entwicklungen in Österreich reflektiert und transportiert, sondern auch maßgeblich die österreichische Identität mit geformt hat und sicherlich weiter mitgestalten wird - so sich die Parteipolitik nicht wieder zu einer massiven Intervention hinreißen lässt.



Mitherausgeber Oliver Rathkolb, Dr. Alexander Wrabetz (ORF-Generaldirektor), Claudia Reiterer, Herausgeber Andreas Novak, Fotoredakteur Martin Majnaric