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Der Resonanzraum des 21. Jahrhunderts

#Hartmut Rosa, Universität Jena


Im Rahmen seiner Qualitätssicherung hat der ORF die Studie „Der Auftrag: Bildung“ beauftragt, um Wissenswertes über die Zukunft des Bildungsauftrages öffentlich-rechtlicher Medien im digitalen Europa zu erfahren. Der vorliegende Beitrag ist ein Ausschnitt aus den Erkenntnissen des deutschen Soziologen Hartmut Rosa.

Die diagnostische Grundthese der Studie „Der Auftrag: Bildung“ lautet zunächst, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk und seine auch digitalen Medienangebote die „klassischen“ Aufgaben des Bildungs- und Demokratieauftrags in durchaus beeindruckender Weise erfüllen.

– Sie stellen auf gleichsam allen Kanälen ein breites Informationsangebot zur Verfügung.

– Sie bilden die Meinungsvielfalt und die Diversität der Lebensformen durchaus weitgehend ab und versuchen, die unterschiedlichsten Gruppen und Milieus „zu Wort“ (aber auch zu Bild und Klang) kommen zu lassen.

– Sie bieten ein breites Bildungsangebot, dass es BürgerInnen erlaubt, rezeptiv und zunehmend auch interaktiv Wissen zu erwerben, Faktenlagen zu eruieren und auch konsekutive Bildungsangebote wahrzunehmen.

– Schließlich haben sich auch die Zahl der Foren und die Möglichkeiten für die Bürger und Bürgerinnen verbessert und vervielfältigt, ihre eigene Meinung und Position darzulegen und zum Ausdruck zu bringen und auf diese Weise aktiv und reaktiv am medialen Geschehen zu partizipieren.

Die Frage bleibt aber bestehen, ob der mediale Raum als ein Resonanzraum fungiert, der die Anverwandlung von und das In-Beziehung-Treten zu fremden Lebenswelten und unvertrauten Weltausschnitten erlaubt und befördert. Die resonanztheoretische Perspektive hilft hier möglicherweise, Orientierung zu stiften und neue Qualitätskriterien zu bestimmen. (…)

Unterschiedliche Formate und unterschiedliche Medien bergen selbstredend unterschiedliche Resonanzchancen bzw. sie haben unterschiedliche Resonanzqualitäten. Bemerkens- und beachtenswert scheint mir dabei grundsätzlich die Differenz zwischen synchronen („Echtzeit-“) und asynchronen (zeitversetzt nutzbaren) Medien zu sein: Das Wissen darum, dass eine Stimme (eines Sängers oder eines Moderators) am Morgen beispielsweise gleichzeitig von vielen anderen Menschen auch gehört wird, stiftet einen gefühlten und wahrgenommenen Resonanzraum nicht nur zum „Sender“, sondern zu allen anderen Hörern, es prästabiliert gewissermaßen einen sozio-akustischen, horizontalen Resonanzraum. Ähnlich verhält es sich bei Live-Übertragungen: Das Bewusstsein, unmittelbar „dabei zu sein“, erzeugt einen sozialen Resonanzraum, der verlorengeht, wenn man ein Spiel oder eine Sendung zeitversetzt und individuell rezipiert. Diese Wirkung lässt sich sogar noch bei Spielfilmen, Soaps oder Krimiserien beobachten: Der Sonntagabend-Tatort beispielsweise stiftet ohne Zweifel einen zivilgesellschaftlichen Resonanzraum, allerdings eben auch hier nur für eine Teilmenge soziomoralischer Milieus, wenngleich diese Teilmenge überraschend groß und heterogen ist. Nutzen und Vorteil der grenzenlosen Individualisierungsmöglichkeiten, welche die neuen Medientechniken bereitstellen und auf die die Anbieter so konsequent insistieren, müssen daher im Blick auf den Verlust solcher geteilten Resonanzräume kritisch gegengerechnet werden. Das Resonanzkriterium kann hierfür einen Maßstab bereitstellen, der sich durchaus auch auf der individuellen Ebene einsetzen lässt: Es ist für den individuellen Zuschauer weniger „lohnend“, ein Fußballspiel einen Tag später anzusehen, auch wenn er das Ergebnis nicht kennt.

Das Radio als Resonanzmedium
Wenn „Hören und Antworten“ die Grundform eines Resonanzverhältnisses definieren, dann kann das klassische Radio (und natürlich auch das Internetradio) als die paradigmatische Form eines Resonanzmediums verstanden werden: Es macht Welt hörbar und ermöglicht eine antwortende Reaktion und Selbstwirksamkeitserfahrung auf Seiten der Hörer und Hörerinnen schon dadurch, dass sie die visuellen Dimensionen der gehörten Welt hinzudenken, also selbst erzeugen müssen. Die Stimme ist ein zentrales menschliches Resonanzorgan (Rosa 2016, S. 109–122), über das Antwortbeziehungen zur Welt gesucht und gefunden werden, so dass es gute Gründe gibt für die Annahme, dass die Stimme des Moderators oder der Sängerin eine Präsenz- und Verbundenheitserfahrung stiften können, die den kognitiven Sinn des Geäußerten überschreiten bzw. ihm vorausliegen. Daher sind die Affizierungschancen für Hörfunkprogramme prinzipiell hoch – allerdings ist die Stimulationsdichte niedrig, weil eben nur auditive Stimuli im Spiel sind, was das Verhältnis von eigenem zeitlichen und energetischem Input zum Output an „Lustgewinn“ relativ ungünstig werden lässt (Siehe dazu ausführlich meine Diskussion des „Fernsehparadoxons“ in: Beschleunigung.
Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005) und zur Folge hat, dass Radioprogramme nur nebenher gehört werden bzw. niedrige Einschaltquoten erzielen. Über die genannte Dimension hinaus ist die soziale Selbstwirksamkeitserfahrung in der Regel nicht sehr hoch, mit Ausnahme natürlich der partizipativen Radioformate, die in der herkömmlichen Form allerdings auch selten die Stufe eines resonanten Transformationsprozesses erreichen.

Fernsehen
Das klassische TV-Format verschiebt demgegenüber die „Weltbeziehungsachsen“ deutlich auf die visuelle Seite – und hat tendenziell eine massiv „passivierende“ Wirkung auf Seiten der Rezipienten zur Folge. Meines Erachtens bedeutet dies, dass die Selbstwirksamkeitserfahrung beim Fernsehen tendenziell am niedrigsten ist, und es gibt durchaus Gründe für die Vermutung, dass Bildschirme eine tendenziell resonanzdämpfende Wirkung haben (Siehe ebd. sowie vor allem Rosa, Resonanz, S. 155–160): die „Affizierung“ (und ihre „Färbung“) bei Spielfilmen beispielsweise wird weit stärker durch die akustische Untermalung (sehr häufig durch Musik, aber auch darüber hinaus durch die Eröffnung eines akustischen Raumes) als durch Bild und Text erreicht. Demgegenüber besitzt das klassische Fernsehen immer noch den Vorteil, geteilte soziale Resonanzräume in Echtzeit durch Live-Übertragungen zu erzeugen und durch die Kombination von Bild und Ton die Resonanzkanäle zu verdoppeln.

Internetmedien
Internetformate haben zwar häufig den Nachteil, dass sie den durch Echtzeitmedien aufgespannten sozialen Raum der (zumindest antizipierten) joint attention und joint emotion nicht erzeugen können, bieten dafür aber erstens neue, starke und vielfältige Möglichkeiten für Selbstwirksamkeitserfahrungen und zweitens natürlich ebensolche Möglichkeiten für symmetrische soziale Interaktion, welche das Internet zu einem privilegierten Begegnungsort werden lassen, wobei hier Begegnung zwei resonanzentscheidende Dimensionen umfasst: Erstens die Begegnung mit „einer anderen Stimme“ im sozialen Sinne und zweitens die Begegnung mit einer „anderen materiellen Welt“ bzw. einem anderen Weltausschnitt.

Demgegenüber ist allerdings auch die Gefahr von „Echokammern“ hier besonders groß: Durch die Click-Logik und stärker noch durch die Filterlogik von Such- und Verweisungsmaschinen steigt die Gefahr, dass die eigene „Blase“ im Sinne einer Echokammer stetig verfestigt und verstärkt wird und immer luftdichter abgeschlossen wird und dass „Andere“ nur noch repulsiv als das Abzulehnende und zu Bekämpfende – oder das Indifferente begegnet. Die Ausdifferenzierung und Abschließung von Kommunikationsräumen und entsprechenden Lebenswelten und Milieugruppen ist hier zweifellos am weitesten vorangeschritten und nur sehr schwer umkehrbar. Wenn der zentrale Auftrag der Etablierung, Pflege und Erhaltung eines geteilten demokratischen Resonanzraumes für alle Gruppen durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erfüllt werden soll, so kann dies aufgrund der hier nur angerissenen Vor- und Nachteile aller Einzelmedien zweifellos nur in einem koordinierten Zusammenspiel aller Medienarten und Formate gelingen.

Immerhin lassen sich resonanztheoretisch (auch mit Hannah Arendt) gute Gründe dafür finden, dass Menschen eine Sehnsucht oder sogar ein starkes Verlangen nach einer „umgreifenden“ Resonanzbeziehung haben (Vgl. Rosa, Resonanz, S. 435–515), das heißt, dass der Wunsch, in lebendige Verbindung zum Ganzen der Welt und des Lebens zu treten und damit die je eigene Echokammer zu überschreiten, zu den gleichsam „natürlichen Anlagen“ der Medienrezipienten gehört. Medienmacher und -politiker dürfen also davon ausgehen, dass der Wunsch nach und die Bereitschaft zur partizipativen Ko-Konstruktion einer umfassenden bürgerschaftlichen Resonanzsphäre durchaus lebendig und verbreitet ist, sie können also gleichsam mit einem „entgegenkommenden zivilgesellschaftlichen Resonanzraum“ rechnen.

Fazit
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass für spätmoderne Subjekte mediale Weltzugänge in vielerlei Hinsicht die zentralen Weltzugänge sind. Medien stiften oder erzeugen buchstäblich Weltbeziehungen: Radio, Fernsehen und Internet sind Kanäle, über die sich Subjekte der Präsenz der Welt versichern. Das gilt keineswegs nur für vereinsamte Personen, für die die Stimme aus dem Radio und das Bild im Fernsehen oder der Chatroom buchstäblich unerlässlich dafür sind, das Gespür und das Bewusstsein einer lebendigen, sprechenden Außenwelt zu erhalten. Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig ist nach Maurice Merleau-Ponty die basale Form des Weltbewusstseins oder der Weltwahrnehmung, und wie dieses etwas da draußen beschaffen ist, das offenbart sich in vielen Hinsichten bzw. für viele Menschen in den und über die Medien. Wenn diese Medien im Kampf um Aufmerksamkeit, Klicks und Quote dieses etwas – diese Welt – prädominant als bedrohlich, gefährlich, befremdlich, spektakulär und überwältigend (re-)präsentieren, laufen sie Gefahr, gleichsam dispositional Resonanzbeziehungen und Resonanzverhältnisse zu erschweren oder gar zu verhindern.

Hören und Antworten ist die Grundform einer resonanten Weltbeziehung, und Hören (in einem umfassenden Sinne, der auch Sehen und Lesen einschließt) und Antworten sollte gleichsam die Ziel-Haltung sein, welche dem sich vollziehenden Umbau der öffentlich-rechtlichen Medienangebote die Richtung weist.


Die ungekürzte Ausgabe der Studie ist in „Der Auftrag: Bildung“, herausgegeben vom Österreichischen Rundfunk 2017, nachzulesen.


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