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Von der Binnenmarktverzerrung zum Zerrbild Binnenmarkt

MMag.a Heidrun Maier-de Kruijff, MMag. Thomas Tannheimer; Verband der öffentlichen Wirtschaft und Gemeinwirtschaft Österreichs (VÖWG)


Das Konzept der Daseinsvorsorge gehört zum Kernbestand ­europäischer Identität. Von der französischen Atlantikküste bis zum Schwarzen Meer begegnen Bürger/innen jeden Tag ­vielfältigen ­Leistungen, die in unterschiedlichster Art und Weise von ­öffentlichen Trägerinstitutionen erbracht oder mitgestaltet werden. Natürlich unterscheiden sich Umfang und Erbringung öffentlicher Dienstleistungen je nach wirtschaftlicher Tradition und kultureller Entwicklung der einzelnen Staaten enorm. Dennoch sind sie ­Ausdruck der Fundamente der europäischen Einigung abseits ­strikter Binnenmarktorientierung: Denn Demokratie und Pluralismus bedürfen einer Basis, die den Menschen ein Mindestmaß an ökonomischer, sozialer und kultureller Teilhabe und damit Selbstbestimmung ermöglicht. Umso erstaunlicher, dass gerade die Europäische Kommission so wenig Verständnis für diese Dimension europäischer Identität und Integration aufbringt.


Öffentliche Leistungen als Kern der sozialen Marktwirtschaft

Die Besorgung elementarer Dienstleistungen in Bereichen wie Wasserversorgung, Wohnraumversorgung, öffentlichem Verkehr, Gesundheit, Sozialem, Kultur, Medien und Rundfunk durch öffentliche Träger hat eine lange Tradition in Österreich. Die Frage nach dem gemeinsamen Nenner all dieser Tätigkeiten, die häufig unter dem Begriff der Daseinsvorsorge subsumiert werden, ist durchaus angebracht. Denn was hat das öffentliche Forschungszentrum, das städtische Verkehrsunternehmen oder der regionale Abfallwirtschaftsverband tatsächlich mit einem öffentlich-rechtlichen Medienhaus zu tun? Auf den ersten Blick wenig bis gar nichts. Nicht nur in puncto Tätigkeitsfelder, Trägerschaft oder Finanzierungsformen ist die Heterogenität beträchtlich. Dennoch – bei näherer Betrachtung werden durchaus Schnittmengen sichtbar: Alle diese Akteure erfüllen Funktionen, die in der gesellschaftlich gewünschten Qualität nur schwerlich im freien Spiel der Marktkräfte erfüllt werden könnten. Und alle diese Akteure müssen zu Recht fortwährend beweisen, tatsächlich einen öffentlich anerkannten Mehrwert zu kreieren. Dieser Mehrwert kann zwar unterschiedliche Ziele betreffen (z. B. soziale, wirtschaftliche, ökologische oder zivilgesellschaftliche etc.), aber er muss nachvollziehbar sein und im gesellschaftlichen Diskurs bestehen können.

Die Debatte um die Leistungen öffentlicher Daseinsvorsorge oszilliert auf europäischer Ebene zwischen zwei gegensätzlichen Polen. Einerseits wird befürchtet, dass unter Berufung auf die Notwendigkeit öffentlicher Daseinsvorsorge Wirtschaftsbereiche dem Wettbewerb der Union entrissen und damit das edle Ziel höherer wirtschaftlicher Dynamik und Wachstums untergraben wird. Andererseits besteht die Befürchtung, dass die Europäische Kommission durch die langfristig angelegte Marktöffnungsstrategie gewachsene Strukturen zerstört, das Subsidiaritätsprinzip missachtet und die politische Gestaltungsfreiheit demokratisch legitimierter Vertretungskörper untergräbt.

Im europäischen Vergleich zeichnet sich der Sektor durch große Heterogenität aus. So ist das Konzept der Daseinsvorsorge eng an den deutschen Sprachraum geknüpft, und sogar hier in der Definition keineswegs einheitlich. Das Pendant in anderen Mitgliedstaaten der EU bilden Begriffe wie Services of General Interest (Großbritannien), Services d’interet général (Frankreich) oder auch Servizi d’interesse generale (Italien). Allerdings sind damit andere Traditionen und inhaltliche Ausrichtungen verbunden. Beispielsweise wird in Frankreich wesentlich stärker auf die beschäftigungspolitische Dimension abgezielt, die öffentliche Versorgung tendenziell also geradezu als Gegenpol zum Wettbewerbsprinzip positioniert. Die jüngeren Mitgliedstaaten der Union wiederum haben im Zuge ihrer Unabhängigkeit häufig Privatisierungsstrategien eingeleitet, die auch Kernelemente ehemals öffentlich erbrachter Leistungen umfassen. Dementsprechend verschieden sind auch die Formen der Erbringung quer durch Europa: von der Erbringung durch öffentliche Verwaltungsdienststellen, Eigenbetriebe, gemeinsame Zweckverbände mehrerer öffentlicher Akteure, ausgegliederten Unternehmen, die öffentlich kontrolliert werden, bis hin zu privaten Trägern. Diese große Heterogenität spiegelt sich im Zugang der Europäischen Kommission nur eingeschränkt wider.

Dogmatische Orientierung am Binnenmarkt

Die anhaltende Tendenz zur Einengung des Gestaltungsspielraums öffentlicher Akteure ist aus historischer Perspektive keineswegs ein Grundprinzip der europäischen Integration. Bis in die 1990er Jahre wurden diese Leistungen kaum infrage gestellt. Ganz im Gegenteil, die europäischen Verträge waren seit jeher gespickt mit Bestimmungen, die auf die Bedeutung öffentlicher Akteure in verschiedenen Sektoren verweisen.

Zwar ist die Europäische Kommission in ihren Initiativen vertraglich streng der „Eigentumsneutralität“ verpflichtet und die Durchsetzung des Binnenmarktes beileibe nicht der einzige Pfeiler der europäischen Gesetzgebung. So wird im Vertrag von Lissabon öffentlichen Auftraggebern beispielsweise ein weiter Spielraum bei der Organisation der Dienste der öffentlichen Daseinsvorsorge eingeräumt. Dennoch betont die Europäische Kommission (zuletzt beispielsweise im Zuge der Richtlinie für Dienstleistungskonzessionen) über den Umweg des europäischen Vergabe- und Beihilfenrechts dogmatisch das Primat des Wettbewerbs. Die eigentlichen Ziele der öffentlichen Dienstleistungen – den Bürgerinnen und Bürgern einen allgemeinen, diskriminierungsfreien, flächendeckenden und erschwinglichen Zugang zu wichtigen Leistungen zu gewähren, werden hingegen stiefmütterlich behandelt und eingespielte, anerkannte Mechanismen der Leistungserbringung ausgehöhlt. In gleicher Weise werden auch öffentlich-rechtliche Medienhäuser im Sinne des europäischen Primärrechts beurteilt und die Vereinbarkeit der Gebührenfinanzierung mit dem Postulat des freien Wettbewerbs konfrontiert. Diese rein ökonomische Sichtweise unterscheidet sich auch hier von einer umfassenden Betrachtung der Ziele, weshalb Konflikte vorprogrammiert sind.

Wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe führen zu Wohlstand

Die vergangenen 20 Jahre haben für die Erbringer öffentlicher Dienstleistungen tiefgreifende Veränderungen gebracht. Zweifellos hat der Einzug moderner Management- und Organisationskonzepte dazu beigetragen, Verkrustungen aufzubrechen, sowie Effizienz- und Kosten-bewusstsein zu steigern. Unternehmerisches Denken und Handeln sind natürlich auch in den verschiedenen Bereichen der Daseinsvorsorge keineswegs fehl am Platz. Das soll nicht bestritten werden.

Dennoch: Misst man die Europäische Kommission an ihren eigenen Maßstäben und sucht nach den tatsächlichen Erfolgen der Deregulierungs- und Liberalisierungsinitiativen ergibt sich ein tristes Bild. Das berühmte Beispiel der Telekom-Liberalisierungen, ist nicht umsonst immer wieder anzutreffen – es ist wohl der einzig unbestreitbare Vorzeigefall. In vielen anderen Bereichen stellten sich schnell private Oligopol-Strukturen ein, die neben Einschränkungen bei Qualität, Zugang und Infrastruktur auch nicht die erhofften Kosteneinsparungen einbringen. In diesem Zusammenhang sei nur an Wasserprivatisierungen in England oder Frankreich erinnert. Ähnliches gilt beispielsweise für den deutschen Energiesektor, wo im Zuge von Re-Kommunalisierungen allmählich wieder Terrain von schwerfälligen privaten Energieriesen zurückgewonnen wird. Nicht zuletzt im Zuge der Finanzkrise haben öffentliche Wirtschaftsakteure einen wichtigen Beitrag zur Bremsung der fatalen Abwärtsspirale geliefert. Vor diesem Hintergrund bekommt auch das Wachstumsmantra Risse: Zahlreiche Ökonomen konstatieren das Ausbleiben der erwarteten Wohlstands- und Wachstumsimpulse durch weitere Binnenmarktintegration seit der Jahrtausendwende. Die Gründe dafür sind zweifellos vielschichtig, beweisen aber, dass die bloße Fokussierung auf den Binnenmarkt zu wenig ist. Oder in den Worten des großen liberalen Denkers Ralf Dahrendorf, der in puncto Staatsgläubigkeit nun wirklich unverdächtig ist: „Wer die Marktwirtschaft als Politiker oder als Wissenschaftler zum System erhebt, schafft selbst ein Dogma, das genauso zerstörerisch wirkt wie die Ideologie des Sozialismus.“ Damit wird auch ein Eindruck zahlreicher Praktiker/ innen vor Ort bestätigt, denen Wachstumsimpulse durch Deregulierungen öffentlicher Leistungen vor allem in Form von Anwaltskanzleien, Vergaberechtsexpertinnen und -experten und Wirtschaftsberatungen begegnen. Denn die hohe Regelungsdichte und Bürokratisierung führt zwangsläufig zu einem hohen Maß an Unsicherheit, das es mittels Expertisen und Gutachten zu reduzieren gilt.

Davon abgesehen, goutiert auch die Bevölkerung in den meisten Bereichen mit satter Mehrheit die Arbeit öffentlicher Träger bei der Leistungserbringung und spiegelt damit den eigentlichen Maßstab für Qualität wider: nämlich die demokratische Rückkopplung für Leistungen, die weiten Bevölkerungsschichten soziale, kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe erst ermöglichen. Denn die europäischen Wohlfahrtsstaaten sind das Fundament für eine gelungene europäische Integration, die Pluralität nicht als bloße Worthülsen begreift. •

Dieser Artikel ist in TEXTE 10 (2013) erschienen.


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