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Medien-Unterhaltung als Service Public

Univ.-Prof.em. Dr. Louis Bosshart, Universität Freiburg


Die "Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999" hält in Artikel 93, Absatz 2 fest: "Radio und Fernsehen tragen zur Bildung und kulturellen Entfaltung, zur freien Meinungsbildung und zur Unterhaltung bei." Damit dürfte die Schweiz wahrscheinlich das einzige Land in Europa sein, das den Anspruch der Bürger und Bürgerinnen auf Unterhaltung in der Verfassung verankert hat. Die hier genannte Zielsetzung wird wörtlich in den Programmauftrag für das öffentlich-rechtliche Fernsehen übertragen. Der Anspruch, durch das Fernsehen unterhalten zu werden, ist bestimmt nicht einklagbar. Es geht im vorliegenden Beitrag einfach um die Frage, mit welchen Angeboten - Genres, Inhalte, Qualitäten - das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Anspruch einlösen, beziehungsweise unterhaltungsorientierte Bedürfnisse befriedigen kann oder gar muss.

Unterhaltung

Stimulierung und Entlastung sind zentrale Motive, die die Zuwendung des Publikums zu unterhaltenden Angeboten bestimmen. Nach Maßgabe empirischer Untersuchungen verspricht sich das Publikum vom Konsum unterhaltender Stimuli psychische und physische Entspannung. Es ist kein Widerspruch in sich, dass Unterhaltung ebenfalls positiv als Vergnügen des Intellektes, der Gefühle und der Sinne verstanden wird. In Anlehnung an J.H. Pestalozzi könnte man sagen, dass Medien-Unterhaltung eine Aktivierung des Kopfes, des Herzens und der Hände sei. In der Fachsprache wäre von einer Aktivierung des kognitiven Systems (Wissen), der Emotionen (Gefühle) und des Verhaltensrepertoires die Rede.

Unterhaltung kann also verstanden werden als aktiver und als rekreativer Prozess (Hallenberger/ Foltin 1990). In einem Polaritätsprofil punktet der Begriff "Unterhaltung" bei Items zu einer positiven Bewertung, zu erholsamer Potenz und zu stimulierender Aktivität. Der Mensch als biopsychosoziales Mängelwesen bedarf mannigfaltiger Anregung und Stützung. Zusammengefasst lassen sich die zentralen Bereich massenmedial vermittelter Unterhaltung folgendermassen umschreiben: unterhaltsame Stimuli vermögen oder sollen das Publikum in eine angenehme Stimmungslage versetzen, deren Wirkung primär der Beeinflussung von Spannungszuständen, vorab der Aktivierung dient.

Artikel 93 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft listet mit Bildung, kultureller Entfaltung, Meinungsbildung und Unterhaltung die Zielgrößen für das öffentlich-rechtliche Radio und das Fernsehen je einzeln auf. In der Realität vermischen sich diese Kategorien sowohl bei der Produktion, bei den Inhalten, als auch bei der Rezeption.

Bildung

Bildung, verstanden als Lernen, Wissenszuwachs, Horizonterweiterung und Fähigkeit zur Anpassung des Wissensvorrates und des Verhaltens an die Umwelt, wird nicht nur in Frage-Antwort-Spielen, sprich Quizzes, vermittelt. Verschiedene Genres transportieren bildungsrelevante Inhalte. Bereits der Nutzen- und Belohnungsansatz zeigt in der Medienwirkungsforschung zeigt auf, dass beim Publikum kognitive Bedürfnisse (z.B. das Bedürfnis nach Information) bestehen und befriedigt werden wollen. Unter dem Stichwort "Edutainment" finden sich Hinweise zu Arbeiten, die sich mit dem Lernpotenzial von Unterhaltungsgenres beschäftigen. Dabei geht es vor allem um fitnessrelevante Inhalte. Diese haben starke Bezüge zum Alltag des Publikums und beinhalten vorab Lebensentwürfe, Strategien, Rollen, Konflikte sowie Verhaltensweisen. Im Zentrum stehen dabei Sexualität, Überleben, Partnerwahl, Macht, Eifersucht, Freundschaft, Familie, Status. Fitnessrelevante Themen sind denn auch in der szenisch dramatischen Medienunterhaltung die am weitaus häufigsten vorkommenden Themen. Als da sind: Liebe ( Partnersuch, Partnerwahl, Treue, Untreue, Sexualität), Sicherheit (Schutz, Kontrolle, Stabilität), Erfolg (Überleben, Macht, Status, Wettbewerb). Ein Blick etwa in die erfolgreiche Fernsehserie "Traumschiff" zeigt, dass dort sowohl Faktenwissen (fremde Orte, fremde Länder, fremde Sitten, Gesundheitsfragen, durch den Arzt an Bord vermittelt), sowie soziale Lerninhalte in den genannten Bereichen Liebe, Beziehungen, Partnerschaft, Familie, Teamfähigkeit vermittelt werden. Die Serien "The Simpsons", "How I met your mother" sowie "Two and a half men" legen Zeugnis davon ab, dass sie in der Lage sind, wertvolle Inhalte im Sinn der Anleitung zur Bewältigung von Alltagssituationen (Handlungsanweisungen) und Problemlösungsansätzen anzubieten. Es geht um Lernen von Verhaltensweisen durch eine Unterscheidung von falschem und von richtigem Verhalten. Allgemeinbildende Informationen werden zu Musik und Kunst angeboten. Diese verlangen beim Publikum allerdings ein gerüttelt Maß an Vorwissen, um erkannt und verstanden zu werden. Wohlverstanden, es handelt sich hier um Angebote. Im Sinne eines autodidaktischen Lernens muss sich das Publikum das Wissen selber aneignen.

Meinungsbildung

Politische Meinungsbildung geschieht mehr und mehr in der Unterhaltungsöffentlichkeit. Die Grenzen zwischen Abbildungen politischer Realität und fiktionalen Geschichten in den Medien sind fließend. Nachrichtenwerte sind auch Unterhaltungswerte.

Gut 30 Jahre bevor Direktzahlungen an die Landwirtschaft in den politischen Gremien diskutiert und danach realisiert wurden, wurde diese Art von Subventionen im Film "Die Landschaftsgärtner" (1969) thematisiert. Ebenfalls gut 30 Jahre der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung war der Film "Die Schweizermacher" (1978) voraus. Es ging um die Assimilierung und Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern. Arg beschädigt wurde das Image der Schweiz auch im Film "Beresina oder die letzten Tage der Schweiz". In diesem Film wartet die Russin Irina auf ihre Einbürgerung in die Schweiz. Sie hat Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten. Sie erhofft sich von ihnen Hilfe bei der angestrebten Einbürgerung . Diese sehen in ihr aber bloß ein Objekt sexueller Vergnügen. Am Bild der sauberen, unbefleckten, reichen Schweiz entstehen beträchtliche Schäden: Verfilzung von Wirtschaft, Politik und Militär, Geldwäscherei, Doppelmoral (Heuchelei) und Korruption. Über Filme dieser Art wird die Rolle von Komödien als Vehikel für Gesellschaftskritik in den Blickpunkt gerückt. Aktuell sind zur Zeit Spielfilme, die das Verhalten gieriger "Wölfe" an der Wall Street thematisieren. "Avatar" (2003) bringt das Problem der Umweltzerstörung, der Ressourcenausbeutung im Umfeld einer romantischen Geschichte auf die Leinwand .

Auf der Ebene der nicht-fiktionalen Unterhaltung ließe sich beifügen, dass bei der flächendeckenden Beißhemmung im politischen Journalismus das Fernsehen alleweil mit politischen Satiresendungen in die Bresche springen kann. Rein diskursive, rationale öffentliche Meinungsbildung ist und bleibt wohl ein Wunschtraum, eine Idealvorstellung.

Kulturelle Entfaltung

Auch im Umfeld der "kulturellen" Entfaltung sind kaum klare Grenzen auszumachen. Motive der Populärkultur basieren eindeutig auf Motiven von althergebrachten Märchen und Mythen. Im erfolgreichen Liebesfilm "Pretty Woman" (1990) werden gleich drei Märchenmotive integriert, nämlich Aschenbrödel, Rapunzel und Dornröschen. Das Aschenbrödel Motiv, nämlich die Befreiung einer Person aus unbefriedigenden Verhältnissen, kommt weltweit in mehr als 400 Versionen vor, als Volksmärchen, als Kunstmärchen, als Ballet (S. Prokofjew; J. Strauss), als Musical (R.Rodgers/O. Hammerstein) und als Oper (G.Rossini; E.Wolf-Ferrari; J. Massenet). Auch das Pygmalion-Motiv aus der griechischen Mythologie findet Eingang in die Populärkultur: "My Fair Lady" (1964), "Miss Congeniality" (2000), "Pretty Woman" (1990) sowie "Vertigo" (1958) .

Die Grenzen zwischen Kunst und Populärkultur sind ebenfalls fließend. Vier Beispiele mögen dies belegen. Das Drama "Romeo und Julia" - Liebe in einem feindlichen Umfeld - wird zum Musial "West Side Story". Die Oper "Madame Butterfly" wird zum zeitgenössischen Musical "Miss Saigon". Die Komödie "The Taming of the Shrew" lebt weiter im Musical "Kiss me Kate". Das Theaterstück von J.P. Sartre wird zum FernsehVoyeur-Stück "Big Brother". Man kann es drehen und wenden wie man will, pure, folgenlose Unterhaltung ("only entertainment") lässt sich nicht ausmachen. Es zeigt sich vielmehr, dass Unterhaltung in öffentlich-rechtlichen Medien von eminenter Bedeutung ist und als eine gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden muss.

Werte

Massenmedial vermittelte Unterhaltung ist letztlich eine permanente, spielerisch oder ernst, in der Öffentlichkeit ausgetragene, vom aktuellen Zeitgeist bestimmte Diskussion von Werten. Eine Art gesellschaftliches Selbstgespräch über das eigene Befinden und aktuelle Probleme. Werte sind für Individuen und Gesellschaften Auffassungen über Ideale oder Zustände, die als erstrebenswert, als wünschbar gelten. Werte können sich auf verschiedene Bereiche beziehen, auf die Politik, die Wirtschaft, auf Religionen, ethische Haltungen oder persönliches Glück. Möglichst große Übereinstimmung von Werten in einer Gesellschaft ist integrationsstiftend. Integration, also die Stiftung von Konsens, die Stärkung des Zusammenhaltes, die Vermittlung gemeinsamen Erlebens, ist wohl die wichtigste Aufgabe öffentlich-rechtlicher Medien. Zentrale Werte der Unterhaltung sind bereits innerhalb verschiedener Kategorien erwähnt worden. Sie werden hier nochmals unter dem Aspekt ihrer je spezifischen Werthaltigkeit sortiert (P. Jung-Dorschberger):

- Moralische Werte: Gerechtigkeit, Treue, Ehrlichkeit, Menschlichkeit, Achtung;

- Soziale Werte: Familie, Freundschaft, Geschlechterrollen, Nützlichkeit, Toleranz, Respekt, Bescheidenheit;

- Äußere Werte: Macht, Erfolg, Schönheit, Unabhängigkeit;

- Gefühlswerte: Liebe , Erotik, Sexualität, Leidenschaft, Einheit, Wir-Gefühl

Werte gelten als das zentrale Bindemittel einer Gesellschaft, dies nicht zuletzt in Gesellschaften, die geprägt sind von akutem Wertewandel oder gar Wertepluralismus.

Der integrative Zusatznutzen von Medien-Unterhaltung liegt in ihrer Popularität. Sie lenkt Aufmerksamkeit auf sich und schafft Potenzial für Anschlusskommunikation. Sie bietet Orientierung und Verhaltensanweisungen für menschliche und allzu menschliche Alltagssituationen. Sie ist oft eingebettet in Als-ob-Welten und erfreut sich so einer gewissen Unverbindlichkeit. Auf diese Weise wird Konfrontation oder Verhärtung vermieden. Unterhaltung verbreitet zumeist Meinungen, etwa im Hinblick auf die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit von Zielen. Unterhaltungsrealität ist zwar nicht reale Wirklichkeit. Es besteht aber ein starker innerer Bezug zwischen den beiden. Ein ideales Vehikel in der Funktion von Werturteilen ist Humor. In seiner Doppeldeutigkeit lässt er verschiedenen Deutungsmustern Raum. Er kann allerdings sowohl einigende Kraft als trennende Kraft entfalten. Es mag paradox klingen, aber Integration in demokratischen Gesellschaften erfordert auch eine Akzeptanz der Diversität. Es gilt, eine Spannung zwischen optimaler Vielfalt und idealer Homogenität zu erreichen.

Service Public

Als sogenannter "Service Public" steht für das öffentlich-rechtliche Fernsehen Integration, die Förderung des Zusammenhaltes und des gegenseitigen Verständnisses, der Austausch zwischen Landesteilen, Sprachgemeinschaften und Kulturen als Auftrag fest. Dieser Auftrag ist einerseits in den einzelnen Sprachregionen und andererseits über die Sprachgrenzen zu erfüllen. Unterhaltung, bzw. unterhaltsame Programme spielen dabei eine wichtige Rolle. Als Synonym wird für den Begriff "service public" englisch "Public Value" gebraucht. Er zielt etwas mehr auf das, was das Publikum schätzt. "Service public" meint Leistungen, welche von der Gesellschaft als notwendig erachtet werden, und die notfalls vom Staat unterstützt werden sollten. In der Generaldirektion der Schweizerischen Radio und Fernseh Genossenschaft (SRG) ist von "qualité populaire" die Rede , und diese meint in Bezug auf Unterhaltung Volksnähe, und diese Volksnähe besteht in der Tat. Welche Begriffe auch immer eingesetzt werden, es steht zu hoffen, dass auf der Basis des vorliegenden Beitrages klar wird, dass Medien-Unterhaltung zum Unterhalt von Gesellschaft beiträgt und in dieser Rolle ein "service public" mit "Public Value" ist. "Service public" meint nicht nur Bildung, Kultur und Politik, wie es dem Bundesamt für Kommunikation vorschwebt. Es ist eine Art "animation culturelle", die nicht zuletzt mit dem Vehikel der Unterhaltung zur Bildung, kulturellen Entfaltung und politischen Meinungsbildung beträgt. Ziel ist die Schaffung von Identität, Zugehörigkeit und Wir-Gefühl in politisch, wirtschaftlich und soziokulturell ausgesprochen heterogenen Gesellschaften. Eine vornehme und für die Gesellschaft bedeutsame Aufgabe über die ganze Programmpalette hinweg.

Dieser Artikel ist in TEXTE 12 (2014) erschienen.


Unterhaltung als öffentlich-rechtlicher Auftrag., Univ.Prof.in Dr.in Gabriele Siegert, Dr. Bjørn von Rimscha, Christoph Sommer, Universität Zürich abspielen
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Texte 12 - Unterhaltung als öffentlich-rechtliche Auftrag
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