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Analoge Vergangenheit im digitalen Raum

Herbert Hayduck, ORF-Archiv


Im zweiten Halbjahr 2019 gibt es einige historische Schwerpunkte im Programm des ORF, etwa zur Mondlandung oder auch zum „Dreißiger“ des Mauerfalls. Ein Ereignis mit Folgen bis heute.

1989 war ein Schwellenjahr der europäischen und globalen Geschichte – aus der historischen Distanz von 30 Jahren kristallisiert sich die Bedeutung der Ereignisse dieses Jahres und ihrer Wirkungen in die Gegenwart immer klarer: Der schrittweise Abbau der Todesgrenze zwischen Ungarn und Österreich, der „Fall“ der Berliner Mauer mit den damit verbundenen, symbolträchtigen Bildern, die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei im November 1989 und die anfangs verwirrenden „revolutionären“ Geschehnisse in Rumänien zum Jahreswechsel – die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ in einer Kettenreaktion quer über den europäischen Kontinent gibt 1989 den Auftakt für die völlige Veränderung der Nachkriegsordnung in Europa. Im Vorfeld unterstützt vom späteren sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow kommt es im gesamten „Ostblock“ zu einer als „Perestrojka“ ausgeru­fenen Liberalisierung. Vorangetrieben von der steigenden Unzufriedenheit der Bevölkerungen Mittelosteuropas kippen 1989 40 Jahre lang verkrustete Macht­strukturen relativ gewaltlos; eine großräumige „Wende“ beginnt. Der Todesstreifen quer durch Europa wird geöffnet und verwandelt sich zu einem Symbol der Erinnerung an die Zweiteilung Europas und der Welt in den Jahrzehnten des „Kalten Krieges“.

Die Bilder dieses historischen Öffnungsprozesses sind Teil des kollektiven europäischen Gedächtnisses: „Mauerspechte“ in Berlin; DDR-Bürger/innen, die in ihren „Trabis“ die offenen Grenzübergänge zwischen Ungarn und Österreich überqueren; ein fassungsloser Diktator Ceausescu, dem bei einer Rede in „seiner“ Hauptstadt Bukarest eine unübersehbare Menschenmenge nicht mehr zuhören will; tschechische Studenten mit Blumensträußen vor dem Polizeikordon. Diese audiovisuellen Dokumente sind eminent wichtige zeithistorische Quellen und Zeugnisse für eine tiefgreifende politische Veränderung Europas, die in der Folge auch Tore hin zum europäischen Einigungsprozess geöffnet hat. Sie sind wichtige Vergleichsmaterialien für eine Gegenwart, in der genau dieser Einigungsprozess wieder in Frage gestellt wird: von populistisch getriebenen Separatismusversuchen und Abschottungstendenzen im Zeichen autoritaristischer Regierungsmodelle, die nationale Egoismen vor gesamteuropäische Interessen stellen.

Und sie sind Dokumente einer „analogen“ Vergangenheit, in der Globalereignisse wie der Fall des Eisernen Vorhangs nach den traditionellen Regeln einer linearen Medienwelt dargestellt und verbreitet wurden. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie diese Ereignisse über heutige, interaktiv- vernetzte Nachrichtenkanäle transportiert worden wären: wie sich die Nachricht von der Maueröffnung in Berlin von 9. auf 10. November 1989 über Abertausende Selfies verbreitet hätte, wie die schrittweise Öffnung des Eisernen Vorhangs an der österreich-ungarischen Grenze über Twitter kommuniziert worden wäre und wie die Diskussion über die Samtene Revolution in Prag in „sozialen“ Netzwerken gelaufen wäre? Wären die anfangs sehr mysteriösen Geschehnisse in Rumänien über Instagram transparenter geworden? Und die wichtigste Frage für die Gegenwart wäre wohl, wie viele dieser digitalen „self-made“ Medienquellen noch vorhanden und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich wären?

Im ORF-Archiv sind alle im Jahr 1989 produzierten und gesendeten Beiträge und Sendungen verfügbar und mittlerweile durch Digitalisierungsprojekte in zeitgemäße Form gebracht worden; so wie alle seit 1955 erhaltenen Fernseh- und Radioinhalte, laufend erweitert um den täglich aktuellen Zuwachs an neu produzierten Medieninhalten. Sie bilden das lebende, audiovisuelle Gedächtnis Österreichs, das über viele Jahre vorrangig als interne Sammlung zur Unterstützung der ORF-eigenen Produktionen gedient hat und seit der breiten Einführung digitaler Produktions- und Archivierungsmethoden schrittweise geöffnet wird.

In der ORF-TVthek steht im Bereich „History“ eine laufend wachsende Sammlung an historischen Themenarchiven zur Verfügung – als hochrelevantes Quellenmaterial für Unterrichtszwecke genauso wie für die interessierte Öffentlichkeit (https://tvthek.ORF.at/history). Eine ebenso laufend erweiterte Sammlung an historischen Radioinhalten steht in den Themenarchiven der Ö1-Website für die Öffentlichkeit zur Verfügung (https://oe1.ORF.at/archiv ) – Dutzende Themenbereiche mit Hunderten Radiobeiträgen und -sendungen bilden ein attraktives und lebendes akustisches Gedächtnis.

Hinzu kommt, dass über Datenbank-Außenstellen an mittlerweile vier österreichischen Universitäten die gesamte Sammlung des ORF-Archivs als digitale Forschungsressource für wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung steht – weitere Standorte für solche Außenstellen sind bereits in Verhandlung. In den aktuellen Planungen für eine erweiterte, umfassende Online-Plattform unter dem Arbeitstitel „ORF-Player“ bilden Contents aus dem ORF-Archiv außerdem eines der Angebotselemente an öffentlich-rechtlichen Qualitätsinhalten.
Die welthistorischen Ereignisse des Jahres 1989 finden also anhand erstklassiger Medienquellen nicht nur in den linearen Programmen des ORF ihren Niederschlag, sondern werden darüber hinaus auch in interaktiven ORF-Angeboten reflektiert. Als hochrelevante Materialien für historische „Faktenchecks“ im Umfeld einer wegweisenden EU-Wahl und als Teil der gebührenfinanzierten Leistungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Österreich. •


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© ORF/Milenko Badzic
Geschichte(n) aus 1.001 Sendung
Public Value Bericht 2015/16: Mag. Herbert Hayduck und Camillo Foramitti – ORF-Archiv