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Vom Traum der Freiheit

Barbara Krenn, TV-Religionsredaktion


Europa bekennt sich zum Pluralismus: zum politischen, zum kulturellen, zum religiösen. Dennoch werden die Stimmen lauter, denen es zu bunt wird mit der Vielfalt, die in der Pluralität mehr Störung denn Bereicherung sehen.

In einer pluralistischen Gesellschaft zu leben ist freilich keine Idylle, meint Wolfgang Thierse, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestags. Es sei eine Zumutung, denn eine freie Gesellschaft sei keine gemütliche Gesellschaft. Schließlich stehen einander vielfältige Meinungen, Weltbilder, Wahrheitsansprüche, Wertorientierungen, Lebensweisen und kulturelle Prägungen oftmals auch konfliktbeladen gegenüber. Wie lässt sich diese kulturelle und religiös-weltanschauliche Vielfalt der europäischen Gesellschaft friedvoll leben? Wie steht es um die sogenannten europäischen Werte Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Toleranz und Würde des Menschen, die – nach Meinung des Philosophen und Theologen Clemens Sedmak „Werte sind, die darauf abzielen, dass Pluralismus gelingen kann, weil sie den einzelnen Menschen ‚zum Blühen bringen können‘“? Die ORF-TV-Religionsabteilung richtet in ihren Programmen regelmäßig den Blick auf Europa. Sie beleuchtet das Ringen um Einheit in der Vielfalt aus der Perspektive von Religionen und glaubenden Menschen. Sie schaut in die Vergangenheit und analysiert, was aus den Religionskriegen, die in Europa gewütet haben, über Kriege von heute und ihre Prävention zu lernen wäre. Sie blickt ins Heute, stellt den Beitrag von Religionen und glaubenden Menschen für ein friedvolles, geeintes Europa vor und zeigt fundamentalistische Strömungen auf, die einem „Friedensprojekt Europa“ entgegenwirken. Und sie diskutiert die zukünftige Rolle von Religion und Religionen für ein geeintes Europa und fragt nach, wie es um die sogenannten europäischen Werte tatsächlich steht.

Einige Beispiele aus den Sendungen „kreuz und quer“, „Orientierung“, „FeierAbend“ und „Was ich glaube“ für 2019:

„kreuz und quer“, Jänner: Der französische Politiker Robert Schuman, einer der Gründerväter der Europäischen Union, sagte über den irischen Mönch Columban, dieser sei „der Schutzheilige all jener, die heute danach streben, ein vereintes Europa aufzubauen!“ Columban gilt als prägender Wegbereiter für das Entstehen einer europäischen Kulturlandschaft. Gemeinsam mit einigen Brüdern wird er im 6. und frühen 7. Jahrhundert zum Begründer einer Missionsbewegung, auf die zahlreiche Klöster in ganz Europa als Zentren der Gelehrsamkeit und Spiritualität zurückgehen. Columbans Bildungsanspruch wird zur Basis eines Bildungssystems, das Generationen der europäischen Elite formen sollte. Columban gerät auf seiner Reise auch in Konflikt mit den etablierten Hierarchien. Doch bei aller Kritik sucht er stets das Einende und schreibt in einem Brief seine berühmten Worte: „Wir alle sind Glieder eines Körpers, ob wir Franken sind, Briten oder Iren, oder von welchem Volk auch immer wir abstammen.“ Der Brief gilt als eines der ersten Schriftstücke, die von einem internationalen und gemeinsamen Identitätssinn zeugen, der die Grenzen von Nationalität und Ethnie überwindet.

„Orientierung“, März: Der Brexit spaltet die britische Gesellschaft und stellt auch die Anglikanische Kirche – und v. a. die Church of England, die Mutterkirche der Anglikanischen Gemeinschaft – auf die Probe. Bis zum letzten Moment weigert sie sich, Position in dieser Frage zu beziehen. Die Bischöfe tendieren eher zu einer proeuropäischen Haltung, die Kirchenmitglieder hingegen haben mit überwiegender Mehrheit für den Austritt aus der EU gestimmt. In den Tagen – oder vielleicht auch noch Wochen – vor dem Aus rufen die Würdenträger zum gemeinsamen Gebet und zur Versöhnung auf. Ironisch mutet an, dass die Anglikanische Kirche selbst Produkt eines ähnlich schmerzhaften Abnabelungsprozesses ist: Sie ist im 16. Jahrhundert durch die Abtrennung von der katholischen Kirche entstanden.

„FeierAbend“, April: Vor 40 Jahren beginnt der evangelische Pfarrer Christoph Wonneberger gegen den bleiernen Stillstand in der DDR anzutreten. Er entwickelt das Konzept eines waffenlosen Zivildienstes. Als eine geplante Sternfahrt per Rad, mit der Wonneberger für seine Idee werben wollte, verhindert wird, überlegt sich der evangelische Pfarrer eine Alternative: Immer montags sollten sich die Menschen zum gemeinsamen Friedensgebet treffen. Er lädt dazu in die Lukaskirche von Leipzig ein. Die Idee des friedlichen Widerstands breitet sich rasch aus – und auch die Idee: „Lasst euch nicht von der Angst treiben. Fürchtet euch nicht!“, erzählt Christoph Wonneberger. Aus den „Montagsgebeten“ gehen die „Montagsdemonstrationen“ hervor – ein bedeutender Bestandteil der Friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989.

„Was ich glaube“, Mai: Als die EU Anfang der 1950er Jahre (damals als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl – EGKS) – nur wenige Jahre nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg – gegründet wurde, wurde sie nicht in erster Linie deshalb gegründet, um den wirtschaftlichen Fortschritt voranzubringen, sondern um den wichtigsten Wert überhaupt zu sichern: den Frieden. Für die Gründer der EGKS war dabei immer klar, dass dieser Zusammenschluss auf demokratischer Grundlage erfolgen sollte. Im Jahr 2000 wurde schließlich die Europäische Grundrechtecharta feierlich proklamiert. Ihre Präambel beginnt folgendermaßen: „Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Die Europäische Union steckt heute in einer tiefen Krise. Der Friede scheint gefährdet. Vielerorts hat die EU das Vertrauen ihrer Bürger und Bürgerinnen ver­loren. Und auch die sogenannten „europäischen Werte“, zu denen sich Europa in der EU-Grundrechtecharta bekannte – Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit und Solidarität – scheinen auf dem Prüfstand zu stehen. „Was ich glaube“ lässt interessante Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Philosophie und Theologie zu Wort kommen und über Europa und seine „Werte“ reflektieren. 

„kreuz und quer“, September: Es ist bisher wohl das dunkelste Kapitel der Geschichte Europas: Der Nationalsozialismus mit seinen gezielten Massenmorden von Juden und Jüdinnen und sogenannten „unwerten Lebens“. Ihr Widerstand gegen Zwangssterilisation und gegen die NS-Euthanasie gilt europaweit als einer der mutigsten Proteste der katholischen Kirche gegen das Nazi-Regime: Anna Bertha Königsegg, Vinzentinerin und Visitatorin des Ordens, die grenzüberschreitend europäisch dachte und fließend Englisch, Französisch und Italienisch sprach, agierte erstaunlich offen und dennoch geschickt gegen die Anweisungen des Terrorregimes. So gut sie konnte, stemmte sich die geborene Deutsche, die in Frankreich zur Krankenschwester ausgebildet worden war, gegen Abtransporte ihrer geistig behinderten Patienten aus Salzburg in den sicheren Tod. Ein Film über eine außergewöhnliche Frau. •


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