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Die Lust am Lexikon

Peter Klein, Ö1


Ö1 versteht sich auch als akustische Orientierungshilfe für alle Menschen, die in Österreich leben. Eine wesentliche Teilaufgabe dabei, die sich auch im Zusammenhang mit der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 stellt: Aufklärung im Hinblick auf das Wirtschaftsleben.

Hand auf’s Herz: Wissen Sie eigentlich, was Derivate und was Options sind? Wissen Sie, ob man mit Bitcoins auch im Supermarkt zahlen kann und ob man dazu eine Blockchain braucht? Eben! Und dabei haben wir noch gar nicht von Jojo-Aktien, Junk-Bonds und Toxic Assets gesprochen. Klingen gefährlich, die Dinger. Vermutlich sollte man die Finger davon lassen. Aber auch weniger dramatische Begriffe könnten wir, zumindest die meisten von uns, vermutlich nicht so wirklich erklären. Staatsanleihen zum Beispiel. Oder Kapitalverkehrskontrolle. Ganz zu schweigen vom „Europäischen Stabilitätsmechanismus“. Und warum die öffentlichen Haushalte sparen müssen, wenn die Europäische Zentralbank achtzig Milliarden Euro pro Monat in die Wirtschaft pumpt, liegt sowieso außerhalb jeglichen Hausverstands. Eigentlich sollte es ja genau umgekehrt sein – oder? Gut, könnte man sagen, man muss und kann ja nicht gleichermaßen firm sein in allen Fachgebieten. Man versteht ja eigentlich auch kaum, warum tonnenschwere Flugzeuge nicht vom Himmel fallen, man weiß ja kaum, wie ein Telefon funktioniert, geschweige denn ein Computer. Dumm ist nur, dass wir permanent mit Wirtschaftsthemen konfrontiert und mit Fachbegriffen aus der Finanzwelt bombardiert werden. Und noch dümmer ist, dass unser Wohl und Wehe – zumindest das materielle – nicht ganz unwesentlich von dem abhängt, was sich hinter schwer verständlichen Begriffen verbirgt. „It’s the economy, stupid!", sagte Bill Clinton 1992 im Zuge seines Wahlkampfs und machte damit unmissverständlich klar, worauf es ankommt: Auf die Wirtschaft nämlich, ob uns das nun passt oder nicht. Es scheint eine kratergroße Lücke zu klaffen zwischen Bedeutung und Verständnis. Wirtschaftsfachleute sprechen eine mit englischen Begriffen gespickte Fachsprache und die Wirtschaftsseiten der Zeitungen sind offenbar für Leser/innen mit einem abgeschlossenen Volkswirtschaftsstudium geschrieben. Die Folge: Abkoppelung. Wir überlassen das, was wir nicht verstehen, kampflos jenen, die etwas davon zu verstehen scheinen.

Journalismus, guter Journalismus, ist stets eine Übersetzungsleistung. Es ist die Aufgabe von Journalismus, die Grenze zwischen den Wissenden und den Unwissenden durchlässig zu gestalten. Medien, öffentlich-rechtliche zumal, haben die Pflicht, Wissen zu demokratisieren. Keine Barrieren zu errichten, sondern sie niederzureißen. Auch, wenn das jenen, die über Herrschaftswissen verfügen, nicht immer gefällt.

Wir von Ö1 haben also eine noble Aufgabe zu stemmen. Denn das Informations-, Bildungs- und Kulturradio des ORF informiert nicht nur, sondern bildet. Wir zeigen Zusammenhänge auf und analysieren Hintergründe. Wir leuchten dunkle Flecken aus und schließen (Wissens-)Lücken. Dies alles, wenn geht, ohne zur Volkshochschule zu mutieren, wiewohl ein guter Bildungssender zwangsläufig eine solche ist. Mit dem feinen Unterschied allerdings, dass wir am Ende weder Zeugnisse noch Zertifikate ausstellen. Unser Publikum besucht uns ausschließlich freiwillig. Und haut sofort wieder ab, wenn das Angebot uninteressant, fad und unergiebig ist. Anfang des Jahres 2015 hatte die Radioredakteurin Ina Zwerger, unter anderem verantwortlich für das „Radiokolleg“, eine Idee. Oder genauer: Auch sie fühlte ein gravierendes Defizit. Auch sie verstand nicht, was der Internationale Währungsfonds eigentlich tut, was der Unterschied zwischen Geld- und Fiskalpolitik ist und warum eine (geringe) Inflationsrate etwas durchaus Positives sein kann. Nur Arbeit entschärft das Problem – fand Kollegin Zwerger und erfand, zunächst als „Selbstbildungsprojekt“, das „ABC der Finanzwelt“. Eine Radioserie von je dreizehn Minuten pro Folge, in der relevante Begriffe und Themen aufgegriffen und abgearbeitet werden. Von A wie ATX bis Z wie Zinsen. Seit April 2015 sind mehr als 60 Folgen des „ABC der Finanzwelt“ über den Äther gegangen. Mit bemerkenswertem Erfolg. Sie wollte schlicht wissen, sagt Ina Zwerger, wovon eigentlich geredet wird, wenn Expertinnen und Experten über Wirtschaft, über Notenbanken, über Wachstumsraten, über Monetarismus und über Austeritätspolitik sprechen. Denn „ohne Wissen über die Finanzwelt lässt sich die Welt von heute nicht mehr verstehen.“ Aufklärung ist also gefragt. Ein Auftrag, den Ö1 gerne annimmt. Nicht zuletzt deshalb, weil uns das Publikum, wie die aktuellen Tagesreichweiten beweisen, dafür dankbar ist.

Aus dem Einfrauenprojekt wurde bald Teamarbeit. Nach und nach sind andere Autor/innen zugestiegen. Mittlerweile gestalten Nikolaus Scholz, Juliane Nagiller und Marlene Nowotny gemeinsam mit der Erfinderin der Reihe durchschnittlich vier Staffeln zu fünf Sendungen pro Jahr, die in unregelmäßiger Folge im sogenannten „Kleinen Radiokolleg“ zwischen 09.30 und 09.45 Uhr ausgestrahlt werden. Um dieses Ö1-Lexikon aber nicht im Orkus der Vergänglichkeit verschwinden zu lassen, sind alle bisher gesendeten Folgen dauerhaft gelagert, als „offene Wissensressource“ jederzeit verfügbar und zeitlich unbegrenzt unter oe1.ORF.at/archiv abrufbar. Ein Ende der Serie ist nicht in Sicht. Allein schon deshalb nicht, weil die Finanzwelt stets in Bewegung ist und immer wieder neue Themen und neue Begriffe gebiert.
Das „ABC der Finanzwelt“ ist aber nicht das einzige Projekt dieser Art, das der Bildungssender Ö1 anzubieten hat. Mittlerweile haben wir auch – um nur einige zu nennen – das „Lexikon der österreichischen Popmusik“ auf Lager (von A wie Ambros bis Y wie Yasmo), wir präsentieren „Positionen der Kunst“ (von Günter Brus bis Yoko Ono), wir rollen anhand von Ereignissen und Momenten der Technikgeschichte die Entwicklung der Informations-gesellschaft im 20. Jahrhunderts auf (Titel: „Datenpunkte im Informationszeitalter“) und 2018 schließlich haben wir anlässlich der Feiern zum hundertsten Jahrestag der Republik genau einhundert Häuser porträtiert. Je ein für die Zeit und Epoche repräsentatives Haus (oder Gebäude) für jedes einzelne Jahr von 1918 bis 2017. Vom Karl-Marx-Hof bis zum ORF-Zentrum am Küniglberg, von der Wotruba-Kirche bis zum Westbahnhof. Auch dieses Projekt ist unter dem Titel „Hundert Häuser – Die Republik Österreich im Spiegel ihrer Architektur“ über die Ö1-Website dauerhaft verfügbar und jederzeit abrufbar.

Projekte wie diese stehen prototypisch für den öffentlich-rechtlichen Kernauftrag des ORF. Im ORF-Gesetz heißt es unter Paragraf 4 / Absatz 1 majestätisch: „Der Österreichische Rundfunk hat für die umfassende Information der Allgemeinheit über alle wichtigen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Fragen“ (zu sorgen). Unter Punkt neun des Unternehmensleitbilds findet man gar eine Formulierung, die wie ein Ö1-Mission-Statement klingt: „Der ORF ist als elektronisches Gedächtnis Österreichs eine ‚öffentliche Mediathek des Wissens‘. Er vermittelt Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung und macht Bildungs- und Kulturinhalte allen zugänglich.“ Wie wahr, kann man da nur sagen. Also ob der Gesetzgeber das „ABC der Finanzwelt“ und andere Wissensressourcen selbst erfunden hätte. •


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Die Lust am Lexikon
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Warum ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtig?
Ulrike Guérot, Donau-Universität Krems
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