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Beate Thalberg, ORF 3sat & arte Die Verbindungsstelle ist der Mensch Meine erste Arbeit für ein ORF-Online-Angebot war das Freieste, was ich in meiner Laufbahn in diesem Sender bisher machen durfte. Der Auftraggeber, ORF.at Chefredakteur Gerald Heidegger, hat den Ball bewusst flach gehalten und wollte mal ausprobieren. Und da liegt schon ein erster Mehrwert im Bereich online für uns Kreative. Ausprobieren, freie Flächen, scheitern erlaubt. Hier ist auch die größte Chance fürs Unternehmen, erst diese Voraussetzung schafft wirklich neue Erzählformen, Innovatives.

Das "News" hat getitelt, ich hätte ein neues Genre erfunden, das fand ich lustig und habe gedacht: Wir alle hier werden noch viel Neues erfinden. "Nur wie?", sprach zuvor der Auftraggeber. Ein erster Schlüssel liegt in der Teambildung. Temporäre Teams, divers zusammengesetzt in Alter, Spezifikation und Herkunft. Ich durfte mir mein Team selbst zusammenstellen. Es hatte ein Durchschnittsalter von 32 - obwohl ich (54) dabei war und es nicht auf "jung" abgezielt hatte. Das waren einfach die Besten. Fachleute vom freien Markt und aus dem ORF, fünf Nationalitäten, diverse Lebensausrichtungen. Seit Jahren achte ich darauf, dass mindestens die Hälfte der Head-Positionen von Frauen besetzt ist und auch Männer in den Assistenzen arbeiten. Das war dieses Mal auch so.
Das Thema und Genre des Films habe ich mir ausgedacht. Wieder eine neue Sache im Online-Arbeiten ist, das Besondere in der Nische zu finden. Alle Youtube-Stars, alle unverhofft viral gegangenen Themen sind so entstanden. Unsere Heldin steht in keinem Geschichtsbuch. Mehr noch, sie ist vollkommen unbekannt und ihre Lebensleistung läuft bis heute unter dem Credit eines Mannes. Der Film spielt nicht in Wien, Berlin, New York, sondern in Salzburg. Die historische Kleinstadt im Zentrum und von hier aus der Blick auf das Werden einer Republik, die Kunst ab 1914, da, wo unsere Story beginnt.

Die Umsetzung haben wir in kleinen Sessions mit jeweils einander verwandten Departments besprochen. Keine Vorgaben aus einer Redaktion, die wir nur mehr umsetzen, wir hatten die kreative Hoheit. In Mini-Workshops haben wir gescribbelt, gesponnen, jedes Detail erarbeitet. Und das musste schnell gehen, denn online erfordert rasche Prozesse und Entscheidungen.

Unser "Chef" ist das Publikum. Also habe ich über SocialMmedia das Gespräch mit der werten Bossin aufgenommen. Habe das zukünftige Publikum in unsere Arbeitsprozesse einbezogen, auf Instagram Vorher/Nachher-Fotos von ästhetischen Entwicklungen gepostet oder die Entstehung des "characters", der Figur unserer Graphic Novel in Schritten gezeigt. In "behind-the-scene"-Snippets haben wir auch das Team über ihre Arbeit zu Wort kommen lassen. Die Reaktionen darauf sind Gold für eine Entwicklungsphase. Wo springen die Leute an und kommentieren, was lassen sie eher unbeachtet, entstehen Irritationen? Ganz nebenbei generiert man so auch schon eine Crowd, die den Film dann auch sehen will und bespricht.
Das wichtigste Neue ist tatsächlich die Ansprache des Publikums auf Augenhöhe. Bis hin in den Filmtext. Das Fernsehen mit seinem gut gemeinten "Bildungsauftrag" aus den 60er Jahren ist den Lebensrealitäten des Publikums oft zu fern. Durch die Ansprache aus der Position dieses "schlauer Seins" oder Tuns in Fernsehbeiträgen bauen wir selbst gleich zu Beginn eine riesige Schwelle, über die viele gar nicht mehr gehen wollen. Stellen wir doch gleich am Anfang eine Frage, die wir als Regisseur/innen tatsächlich haben. Zeigen wir uns, auch einmal im Scheitern. So kann sich das Publikum mit uns verbinden.

Die Verbindungsstelle ist der Mensch. Daher haben meines Erachtens online nur mehr Geschichten eine Chance, die character-driven sind. Also ein Mensch, der im Mittelpunkt steht, von dem alles ausgeht, von seinen Sehnsüchten, Ängsten, Träumen. Und zwar gleich zu Beginn. Das bedeutet auch, das die lexikalische Erklärwut des Fernsehens ins Archiv wandern muss, Abteilung "old school". Eine Erkenntnis, die unsere Heldin in einer Story auf emotionale Weise gewinnt, hat wesentlich mehr Wert fürs Publikum als didaktische Monologe. Sie bleibt auch besser hängen, bitte sehr, Bildungsauftrag.
Der ORF hat da einen riesigen Vorteil anderen europäischen Sendern gegenüber: Die Blaue Seite, ORF.at. ARD, ZDF oder das Schweizer Fernsehen dürfen Video-Inhalte nicht größer textlich begleiten. Wir schon. Erst durch meine Arbeit an der Webserie habe ich verstanden, wie wunderbar transmedial wir arbeiten können. Im Zentrum der Film, rundherum spannende Kurztexte zu historischen Hintergründen. Zusätzliche Fotostrecken, kuratiert von einer wichtigen Interviewpartnerin im Film. Ein Stich einer Stadtansicht mit Zufahrt auf unseren real existiert habenden Filmort, ein riesiges Foto-Atelier an der Salzach. Zukünftig möchte ich, dass wir darin dann auch interaktiv navigieren können. Und unser riesiges Kapital, die Radio-Flotten des ORF, könnten mit einsteigen. Keine Cross-Promo, das ist peinlich in der Netzkultur. Aber Ö1 etwa könnte in "Le week-end" die (fiktive) Lieblingsmusik unserer Filmheldin spielen, die sie zwischen den 1910er und 70er Jahren gehört hat. Radio damals meets Radio heute. Das ist assoziativ und ansprechend.

Der Kern unserer Überlegungen zu neuen Online-Angeboten ist sicher die Machart. Da haben wir so phantastische Möglichkeiten! Am Anfang muss immer das Genre klar sein. Also egal, ob Dreiminüter oder Serie, erzähle ich ein Biopic, ein Drama, eine Dramödie, einen Krimi, eine Komödie …? Das hilft schon enorm bei der Auswahl der Inhalte und des Materials und forciert Erzählstränge zu wirklich starken Bahnen. Die Serie hat viele Vorteile. Wir können Figuren ohne lange Einführung auftauchen und wieder verschwinden lassen. Wir können große historische Epochen so erzählen, dass wir nur auf die für unsere Hauptfigur wichtigen Ereignisse leuchten und das andere einfach weglassen. Dieser Vollständigkeits-Gedanke, dass "das jetzt aber erklärt werden muss", ist eine wirkliche Untugend in Doku-Redaktionen des Fernsehens. Es unterbricht die emotionale Bindung zu den Figuren und verendet doch nur in einem schlechten Wikipedia-Text, denn diese Welt ist so komplex, wir können in einer begrenzten Zeit wie der Dauer eines Filmes nur aus einer bestimmten Perspektive auf sie schauen. Diese Perspektive hat keinen Ausschließlichkeits-Anspruch, sie ist ein Angebot mit dem Subtext, dass andere Blickwinkel möglich sind. Die Serie erlaubt auch über mehrere Episoden hinweg gedankliche Verbindungen zwischen Ereignissen und Figuren, die zu Erkenntnissen führen, die nicht betextet werden müssen.
Natürlich erhöht sich online die Taktzahl. Aber im Erzählen, nicht in hektisch geschnittenen Bildern oder Überwältigungsmusik. Will heißen: Höhepunkt an Höhepunkt, ein dramatisches Ereignis (für unsere Figur im Mittelpunkt) nach dem anderen, Finten aus unbekannter Ecke - unsere Heldinnen brauchen was zu kämpfen! Und wir würden sie doch nie in den Mittelpunkt eines Filmes setzen, wenn wir nicht so beeindruckt von ihrer Resilienz, ihrem Mut, ihrem Standvermögen wären. Also zeigen wir das auch. Zeigen, nicht im Text behaupten. Das bedeutet, wir müssen es mit ihr, mit ihm erleben. Bei heutigen Menschen können das Rückblicke sein, in denen sie uns von ihrer Ausweglosigkeit erzählen und wie sie es da raus geschafft haben. So etwas öffnet innere Räume beim Zusehen, facht die Phantasie an, lässt mit leiden, mit atmen, mit freuen.
Letztlich ist das Finden von Alternativen zu Netflix & Co gar nicht so eine Mammut-Aufgabe. Denn wir kennen das Publikum viel besser, die hiesige Kultur, die Örtlichkeiten. Es ist für uns viel leichter, gute Storys zu finden, die hier wirkliche Relevanz haben. Und so sehr ich darauf bestehen muss, dass ökonomische Gesetzmäßigkeiten eingehalten werden und der ORF bzw. der Gesetzgeber für genug Budget und Personal sorgen muss, wenn wir eine riesige Expansion ins www wollen, so wenig sind zündende Geschichten in die Mitte einer Jetzt-Gesellschaft allein eine Frage von Geld-Investition.

Zuerst steht die Idee und das Kennen unserer Zielgruppe. Da sind wir Meilenschritte voraus. Dass wir das ästhetisch hochwertig umsetzen müssen, gibt uns weniger Netflix & Co. vor als etwa die Gaming-Kultur. Da liegen oft großartige Dramaturgien in den Erzählungen und eine höchst attraktive Ästhetik. Hier können wir etwas lernen und sollten uns auch zusammentun, denn die Gaming-Kultur kann viel mehr als wir oder Netflix in der Interaktivität. Und vielleicht ist das schon ein Hinweis auf den gesamtgesellschaftlichen Paradigmen-Wechsel: nicht alles vom Geld her zu denken. Die bessere Geschichte wird immer über die Materialschlacht siegen, davon bin ich überzeugt und ich sehe uns daher als mindestens ebenbürtig.
Ich würde zum Beispiel gerne ein Projekt kuratieren, dass ich gar nicht selbst mache, sondern junge Filmemacher/innen. In Zusammenarbeit mit der Filmakademie Wien oder einer anderen Filmhochschule. Thema: Das Dorf, das Sterben des Kollektiven, von Geschäften, Dorfplatz-Tratsch, ja von Zukunft im Dorf. Zuerst eine Feldforschung. Hingehen mit kleinen, mobilen Kameras, vielleicht nur mit dem i-Phone. Dann kleine Workshops, kurz, Themenfindung, Erzählform, Dramaturgie der gesamten Serie. Das Portrait der 90jährigen, ein Besuch in der letzten Disco im Umkreis mit dem Moped. Einen Tag Ernte-Arbeit oder Melken beim Bauern. Landschaftskunde mit der Kinder-Gang und vieles mehr. Inklusive Misstrauen, das einem entgegenschlägt und wie das geknackt wurde. Heraus kommt eine so individuelle Sicht auf ein Dorf, die alle Tragik, allen Humor, alle Ängste und Zuversicht unserer Zeit trägt.
Kann irgendwer solche Ideen brauchen? Ich hab' noch so viele mehr.