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Prof. Dr. Jan-H. Passoth, Europa-Universität Viadrina Technologien für gesellschaftlichen Zusammenhalt Zunächst [erg.: im Studienbeitrag] habe ich in einem ersten Schritt einen Blick in die in der akademischen und öffentlichen Debatte üblichen Krisendiagnosen in Bezug auf digitale Technologien im Allgemeinen und Plattformen im Besonderen geworfen. Dabei habe ich herausgearbeitet, dass die Debatten auch aufgrund der erst langsam zusammenkommenden empirischen Forschung zu großen Teilen sehr abstrakt und konzeptionell geführt wird und dass, mit einigen Ausnahmen, sich diese eher abstrakten Debatten um Geschäftsmodelle, Marktbeherrschung und Meinungsmacht drehen. Die genannten Ausnahmen wiederum befassen sich unter dem Begriff der Plattformen mit der Intermediärsfunktion von Online-Angeboten und identifizieren damit einen zentralen Punkt: Welche praktischen Verschiebungen und Veränderungen in den soziotechnischen Zusammenhängen zwischen bestehenden Akteuren, Institutionen und Technologien sind denn für die eher abstrakt diskutierten Effekte verantwortlich? In der Antwort auf diese Frage liegt meiner Einschätzung nach der Schlüssel für das Verständnis, aber vor allem auch für einen Ausweg aus der aktuellen Krise digitaler Technologien: Wenn das Problem in Verschiebungen und Veränderungen soziotechnischer Zusammenhänge besteht, dann liegt in erneuten Verschiebungen auch eine Lösungsstrategie.

In einem zweiten Schritt bin ich einer Argumentation gefolgt, die es vermeidet, die soziotechnischen Kontroversen dieser Verschiebungen und Veränderungen auf Probleme von Märkten und Wertschöpfung, auf Probleme der Organisation und Regulierung, auf Probleme der Vermittlung und Dienstleistung zu reduzieren und damit lediglich als soziale Kontroversen zu behandeln. Anschließend an eine Reihe von Arbeiten, die überzeugend herausgearbeitet haben, dass es sich bei den Verschiebungen und Veränderungen in den soziotechnischen Zusammenhängen um Prozesse des Umbaus zum Teil öffentlicher, zum Teil sektoral privatwirtschaftlich organisierter und regulierter Infrastrukturtechnologien in von den großen Technologieanbietern bereitgestellten und betriebenen Infrastrukturen handelt, bei denen Schritt für Schritt Module, Komponenten und die sie tragenden "Communities of Practice" durch solche aus dem eigenen Ökosystem ersetzt wurden. Ich habe dann auf einige Vorteile davon hingewiesen, diese Veränderungen und Verschiebungen als Infrastrukturfragen zu behandeln: So verweist der Infrastrukturbegriff schon historisch und politisch darauf, dass es dabei zumindest zu einem großen Teil um traditionell öffentliche und am Gemeinwohl orientierte Aufgaben handelt, die so über den Umweg der Technologie und unter der Oberfläche in die Hände einiger großer Konzerne geraten. Zudem öffnet er den Blick für eine Reihe von bereits seit längerem vorliegenden empirischen Erkenntnissen zu den Eigenschaften und Besonderheiten von Infrastrukturtechnologien: ihre Modularität und Relationalität sowie ihre Abhängigkeit von Standardisierungsprozessen und den politischen Kontroversen und Auseinandersetzungen um handfeste Interessen, die mit ihnen verbunden sind.


Auch hierin liegt ein Schlüssel zu Veränderung: Modularität ermöglicht Konkretisierung, denn für die Förderung und Stärkung von Alternativen zu den bestehenden digitalen Infrastrukturen braucht es gar keine großen (europäischen) Anbieter, sondern viele, aber aufeinander bezogenen Initiativen für offene und gemeinwohlorientierte alternative Module. Relationalität bedeutet, dass Interoperabilität, offene Schnittstellen und die Pflege von Kompatibilität einerseits besondere Aufmerksamkeit und Arbeit erfordern, andererseits aber auch ein Erfolgsprinzip für den Aufbau eines alternativen Ökosystems von Modulen und Komponenten, aus denen sich alternative und gemeinwohlorientierte Infrastrukturen aufbauen lassen, sein können. Der Hinweis auf die Kontroversen um Standardisierung schließlich hilft, einige der entscheidenden techno-politischen Interventionsorte zu identifizieren: Standardisierungsgremien sowie weniger deliberative Orte der Auseinandersetzung um Standards. Wo Kontroversen herrschen, ist auch Raum für Alternativen. Aber das bedeutet auch, dass es zum Aufbau alternativer und gemeinwohlorientierter Infrastrukturen Expertise und Ressourcen braucht, um gegen die Standardisierungsaktivitäten der großen Technologieanbieter offene Alternativen durchzusetzen.

In einem dritten Schritt schließlich bin ich auf das Spektrum existierender europäischer Antworten auf die identifizierten und diskutierten Probleme mit der dominanten Rolle der großen Technologieanbieter umzugehen. Dabei habe ich nicht nur einen Blick auf die gegenwärtig diskutierten Regulierungsvorschläge, ihre Grundideen und einige ihrer für die Implementation noch offenen Fragen geworfen, sondern ebenso die lange Reihe gescheiterter industriepolitischer Maßnahmen und die demgegenüber zwar weniger finanzstarken, aber vielversprechenderen Maßnahmen im Bereich der Kultur- und Forschungsförderung betrachtet. Dabei ergibt sich in der Gesamtschau ein ambivalentes Bild, aber es ist auch festzustellen, dass im Werkzeugkasten europäisch zu findender Antworten eigentlich schon alles liegt, was es für den konsequenten Aufbau offener und gemeinwohlorientierter digitaler Infrastrukturtechnologien brauchen würde: die normativen Orientierungen an europäischen Grundrechten und demokratischen Werten und Verfahren, die den Entwürfen der Regulierungsvorschläge zugrunde liegen, die finanziellen Ressourcen, die leider vor allem industriepolitisch eingesetzt werden, die guten Erfahrungen damit, zum Aufbau gemeinwohlorientierter Infrastrukturen wie Europeana auch auf öffentliche Einrichtungen, Kulturinstitutionen, Universitäten und Bibliotheken zu setzen sowie mit Beteiligung und Mitbestimmung zu arbeiten; schließlich die Beteiligungsformate, Transparenzmechanismen und Formen der öffentlichen und im öffentlichen Interesse agierenden Bewertung und Evaluation soziotechnischer Innovationen, wie sie im Rahmen der EU Forschungsförderung in den letzten drei Rahmenprogrammen kontinuierlich weiterentwickelt wurden.

In einem letzten Schritt habe ich an einer Reihe von aktuellen Initiativen aufgezeigt, dass es Anzeichen gibt, dass sich vorsichtig und Schritt für Schritt die Lage und ihre Einschätzung verändern und sich vor allem im Bereich der Medienangebote - Angeboten der Bereitstellung, Verbreitung und Zugänglichmachung von Audio-, Video- und Textinhalten - die Einsicht durchsetzt, dass der Markt- und Meinungsmacht der großen Technologieanbieter nicht allein mit Regulierung zu begegnen ist, sondern durch Zusammenarbeit mit Forschung, Zivilgesellschaft und Unternehmen, um alternative, offene und am Gemeinwohl orientierte Infrastrukturen aufzubauen. Ich habe darauf hingewiesen, dass sowohl konkrete Initiativen aus dem Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien hier eine besondere Rolle spielen als auch, dass in der Forschung dazu das Argument an Unterstützung gewinnt, dass die Idee der öffentlich-rechtlichen Medien ein Update benötigt. Wenn das gelingt, ist sie in der Lage, als institutionelle Blaupause für die Organisation von Markt- und Staatsferne für die Etablierung von Trägereinrichtung für die Entwicklung und den Betrieb von Infrastrukturkomponenten, für die Organisation von Mitbestimmung und Beteiligung sowie für die Organisation von Aufsicht und Rechenschaftspflichten zu dienen.

Die Langversion dieses Artikels ist in der Public-Value-Jahresstudie "Die STUDIE: Digitale Transformation" (S. 87-97) erschienen.