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Günther Ogris Vertrauen wieder erarbeiten Die Nachrichtenredaktion des ORF genießt und genoss lange Zeit den Ruf, unabhängig und kritisch auch gegenüber den Regierenden zu sein. Obwohl man den Einfluss der Politik auf die obersten Gremien des ORF kennt, nahm man auch die Unabhängigkeit der Nachrichtenredaktion des ORF wahr. Diese Beziehung zwischen ORF und der österreichischen Bevölkerung ist jedoch herausfordernder geworden.

Österreichs Gesellschaft erlebt insgesamt eine Vertrauenskrise. Vor allem das Vertrauen in eine bessere oder gute Zukunft ging verloren. Die Serie von Skandalen - Ibiza, Beinschab - und die Serie von Krisen - Pandemie, Regierungskrise, die Erstürmung des Kapitols, der Ukrainekrieg und vor allem die Teuerung haben die Zuversicht der Menschen deutlich geschwächt.

In Phasen, in denen die Beschäftigung steigt und die Arbeitslosigkeit sinkt, Menschen eher zu- als abwandern, könnte die Stimmung optimistisch und das Vertrauen in die Zukunft stark sein. Und wenn in den nächsten Jahren ein großer Teil der Führungskräfte in Pension geht, könnte die Generation der 30- bis 40-Jährigen besonders optimistisch sein, weil gerade für sie ein Aufstieg möglich wird.

Der Demokratiemonitor "www.demokratiemonitor.at" zeigt aber, dass die Stimmung in Österreich schlechter ist als die wirtschaftliche Gesamtlage. Das liegt einerseits daran, dass die Inflation im europäischen Vergleich besonders hoch ist. Sechs von zehn Befragten zeigen sich wegen der Teuerung besorgt. Die Berichte über die stark steigenden Gewinne der Konzerne verwundern, die Schere zwischen Arm und Reich belastet genauso stark wie der Klimawandel.

Bei den Landtagswahlen in Tirol, Niederösterreich und in Kärnten waren die steigenden Preise Hauptgesprächsthema. 90 Prozent der Tiroler:innen teilten das Gefühl, dass das Leben in Tirol nur mehr schwer leistbar ist, das Vertrauen, dass die Politik diese Herausforderungen stemmt, ist im Vergleich zu den Wahlen davor um 20 Prozent zurückgegangen. Die Partei des Landeshauptmanns verlor erheblich an Stimmen. In Kärnten und in Niederösterreich traten in ähnlicher Motivlage ganz ähnliche Verluste ein.

Das ressourcen- und einkommensschwächste Bevölkerungsdrittel hat schon länger kein Vertrauen mehr in die
österreichische Politik. Die Korruptionsskandale und die Steuererleichterungen für "spendable" Einzelpersonen haben das Poitikvertrauen auch der Mittelschicht gestört.

Die Pandemie hat dieses Vertrauen in die Politik weiter geschwächt. Die in Österreich überdurchschnittlich strengen Pandemiemaßnahmen haben auch das wohlhabendste Ressourcendrittel erschüttert. Die Erklärungen für die Maßnahmen wie den Lockdown für Ungeimpfte und die Impfpflicht waren für die Bevölkerung kaum nachvollziehbar.

Das Ankündigen von Strafen durch die Regierung folgt den autoritären Traditionen Österreichs. Damit hat die Regierung die Mitwirkung der Bevölkerung an den Maßnahmen steigern wollen, aber im Subtext gleichzeitig Folgendes ausgedrückt: "Wir Regierenden haben kein Vertrauen in die Vernunft der Bevölkerung". Die Reaktion der Bevölkerung war aber in erster Linie nicht Gehorsam, sondern Skepsis und Widerstand gegenüber den "Mächtigen". Das Misstrauen der Regierung in die eigene Bevölkerung spiegelte die Bevölkerung einfach zurück - das Vertrauen in das politische System erreichte einen Tiefpunkt.

Die politischen Spannungen haben die Weltbilder der Bevölkerung verändert. Wissenschaftsskepsis, Globalisierungskritik, Xenophobie, Misstrauen gegen die WHO, die UNO und die EU haben sich zu einem neuen Weltbild verdichtet, das durch rechten Populismus mobilisierbar ist und die Nähe zum Rechtsextremismus in Kauf nimmt. Die Opposition gegen ein gesamtes System, welches sich gegen die Menschen verschworen habe, ist deutlich stärker geworden.

Man kann das, was in Österreich beobachtbar ist, in anderen Ländern beobachten. Die konservativen Parteien verlieren an die Rechtsaußenparteien. Parallel zu diesem Prozess und vergleichbar findet ein Wandel der Öffentlichkeit statt. Die oppositionelle Stimmung und das Misstrauen trifft auch die großen Medienhäuser, vor allem auch die öffentlich- rechtlichen Medien.

Der ORF mit seiner Reichweitenstärke und seinem Anspruch für alle etwas zu bieten, kann sich nicht in einen ruhigen Hafen zurückziehen. Er ist diesen politischen Strömungen ausgesetzt und muss in diesen navigieren, auch wenn es stürmisch einhergeht. Ein einmal erschüttertes Vertrauen ist schwer wiederzuerringen. Direkte persönliche Beziehungen, Zeit für Gespräche, Empathie und Zuhören, Antworten geben, ohne sich zu verbiegen, transparent und zuverlässig sein, das hilft. Zuverlässigkeit, die auch von diversen Regulativen, die die Freiheit des Journalismus garantieren, gestützt wird.

Der ORF hat die unterschiedlichsten Formate, um das Gespräch symbolisch sichtbar und nachvollziehbar zu machen.
Die Herausforderung ist dabei, dass er sich zwei Bevölkerungsgruppen zuwenden muss, die schon seit einiger Zeit auf Distanz sind. Da ist einerseits die weltoffene, urbane, höher qualifizierte jugendliche Mittelschicht, ein wachsendes Bevölkerungssegment - und eine besonders anspruchsvolle Klientel, wenn es um Journalismus geht. Und andererseits das einkommensschwächere Bevölkerungsdrittel mit seinen Sorgen und seinem Gefühl, von den Medien nicht wahrgenommen zu werden. Bei Themen wie Wohnungspreisen, Lebensmittelpreisen, Kampf um höhere Löhne und existenzsichernde Einkommen gibt es eine wachsende Klientel, die Menschen an ihrer Seite suchen.

Warum nicht auch populäre Persönlichkeiten aus den Kreisen des ORF? Mit Formaten wie dem "Bürgeranwalt" gelingt dies dem ORF bereits. In diese Richtung kann er sein Angebot ausweiten und kann sich so der am schwierigsten zu erreichenden Zielgruppe wieder annähern.


Zahlen, Daten und Fakten zur Leistungskategorie Vertrauen, finden Sie im Datenteil des Public Value Berichts 2022/2023.