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Tom Matzek Identität – die Vermessung Österreichs Seit 2007 fährt die ORF-Reihe "Menschen und Mächte" das dokumentarische Tiefenlot aus, um analytisch die Finger in die Wunden der rotweißroten Gesellschaft zu legen. In mehr als 300 Sendungen hat die Redaktion der Dokumentarist:innen versucht, die Vergangenheit für das Verständnis der Gegenwart aufzuarbeiten. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, es sind die Mechanismen, die es zu erkennen gilt.

Eine der aktuellen Sendungen widmet sich einem Ereignis vor 90 Jahren. 4. März 1933: bei einer Sondersitzung des Nationalrates kommt es zur folgenschwersten Panne der österreichischen Geschichte. Nach einer Stimmzettel-Verwechslung gehen den Abgeordneten die Nerven durch. Alle drei Parlamentspräsidenten treten zurück, allen voran Altkanzler Karl Renner. Die Kettenreaktion macht das "Hohe Haus" handlungsunfähig und läutet das Ende der noch jungen Demokratie der Ersten Republik ein. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nützt die Gelegenheit, um das vielfach als "Quatschbude" diffamierte Parlament auszuschalten und eine Diktatur zu errichten. Minutiös hat Menschen und Mächte Autor Georg Ransmayr den Ablauf dieser historischen Wende rekonstruiert und erst dadurch ein realitätsgetreues Bild geschaffen. Erst dieses macht klar, dass es nicht nur um die Identifizierung von Verantwortlichen geht, sondern dass der Parlamentarismus ein fragiles Gut ist, auf dass alle Vertreter einer Demokratie achten müssen. Sein Film "Weg mit der Quatschbude" ist die aktuellste Darstellung der Parlamentsausschaltung 1933 - auf Basis der neuesten Erkenntnisse einer Vielfalt von Wissenschafter:innen. Sie spiegelt damit auch den Status quo eines Diskurses wieder, dem auch das dokumentarfilmische Schaffen folgt. Während in den Anfängen der ORF-Zeitgeschichteredaktion in den 1990er Jahren die Figur Engelbert Dollfuß noch in der Polarität zwischen Märtyrer (im Kampf gegen die Nazis) und Arbeitermörder (im Februar 1934) dargestellt wurde, zeichnet die Wissenschaft heute das Bild eines Bundeskanzlers, der zum Diktator wurde - aus vielen Gründen. Ransmayr baut nicht nur auf seinen eigenen jahrelangen Recherchen auf, sondern auch auf dem tradierten Wissen einer Redaktion, die sich über Jahrzehnte kontinuierlich mit den Themen unserer Zeitgeschichte, den Entwicklungen der Republik, den Fragen unserer Gesellschaft beschäftigt. Nur so ist es möglich, immer am Puls der Geschichtsforschung ihrer sich ständig weiterentwickelnden Erkenntnisse zu sein.

Weiteres Beispiel: "Braune Brettln, braunes Leder", eine Geschichte von Skifahren und Fußball in der NS-Zeit. Während die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Fernsehen meistens auf der Geschichte von Opfern oder Täter:innen beruht, werden die Grauzonen der Alltagsgeschichte meist übersehen. Die Dokumentation von Martin Betz, redaktionell geleitet von Gerhard Lackner und Robert Gokl, widmet sich genau diesen Grauzonen, nämlich dem Sport, der landläufig nicht mit Politik in Verbindung gebracht wird. Skifahren und Fußball waren lange österreichische Nationalsportarten, bis der "Anschluss" 1938 alles änderte - jüdische Spitzensportler:innen und Funktionär:innen werden verfolgt oder ermordet, die Sportverbände in den NS-Reichsbund für Leibesübungen eingegliedert, die "arischen" Sportler:innen erst als Draufgänger und Himmelhunde, dann als Kriegsheld:innen inszeniert. Abseits der dramatischen Schicksale zeigt diese Dokumentation aber auch, welchen Einfluss die NS-Ideologie auf das Sportgeschehen hatte. Weil die Nazis nur Amateur:innen als Protagonist:innen fördern wollten, da diese mehr die "einfachen Leute" verkörpern, verboten sie den Profifußball. Die Stars der "Wunderteam"-Ära wie Matthias Sindelar oder Karl Sesta hätten dadurch Einbußen gehabt. So wurden sie kurzerhand mit arisierten Unternehmen entschädigt. Negative Folgen hatte es dagegen für Rapid-Stürmer Franz Binder, der 1941 wesentlich zum Sieg der Hütteldorfer gegen Schalke 04 beitrug. Dass die "Ostmark" der Mannschaft des "Altreichs" damit den deutschen Meistertitel wegschnappte, war politisch unerwünscht. Binder und seine Kollegen mussten an die Front.

Während die Aufarbeitung der Fußballgeschichte in der NS-Zeit im letzten Jahrzehnt vor allem durch die großen Vereine Rapid und Austria vorangetrieben wurde, ist die Auseinandersetzung im Skisport noch offen. Dass Alpinsportler:innen, vor allem aus politisch deutsch-national geprägten Regionen, nicht nur instrumentalisiert wurden, sondern gut in die NS-Ideologie integrierbar, und zum Teil deren willige Vollstrecker:innen waren, ist bis zum heutigen Tag oft Tabu. Mit Geschichten wie diesen, die durch lange Recherchen zusammengetragen wurden, gelang es dem "Menschen und Mächte"-Team, ein facettenreiches Sittenbild des Spitzensports dieser Zeit zu entwerfen und exemplarisch zu zeigen, wie stark Sport von Politik abhängig ist - vor allem in autoritären Systemen.

Weiter zurück in der Geschichte Österreichs gingen im Februar 2023 die Gestalter:innen Viktoria Tatschl und Gregor Stuhlpfarrer. "Ukraine - der lange Weg in die Unabhängigkeit" zeigte zum Jahrestag des Angriffs, wie sehr dieses Land aufgrund seiner Ressourcen und seiner Position zwischen Europa und Russland beständig ein "killing field" des 20. Jahrhunderts war. Diese Dokumentation zeigte aber auch die österreichischen Berührungspunkte. Der Westen der Ukraine, damals Galizien, war ja ein Kronland der Habsburger-Monarchie, zugehörig seit der Zeit Maria Theresias. Seine Bürger:innen galten als "Tiroler des Ostens". Doch der erste Weltkrieg und die Kämpfe gegen Russland machten die Ukrainer:innen als Bevölkerung an der Front verdächtig. Landsleute wurden zu Feind:innen. Tausende wurden aus der Region Lemberg nach Österreich in Anhaltelager gebracht - viele von Ihnen starben aufgrund der schlechten Behandlung und sanitären Lage. Ein Verbrechen an der eigenen Bevölkerung - eine Tatsache, die bis heute kaum bekannt ist. Ein unbekannter Aspekt in der Biografie des "guten" Kaisers Franz Joseph, der in dieser Dokumentation belegt wurde. Und nur einer von vielen, der die Geschicke der Ukraine und Österreichs bis heute verbindet. Im Jänner 2023 besuchten oberösterreichische Freiwillige die Dörfer, die einst Maria Theresia besiedeln ließ und wo auch heute noch alt-österreichisch gesprochen wird, und bringen Hilfsgüter.

So zeigt die Sendereihe mit tiefgehender Recherche, dass auch in jenen Regionen ein Stück österreichischer Identität und österreichischer Muster steckt, in denen man es nicht vermuten würde. Es wäre wünschenswert, diesen Teil öffentlich-rechtlichen Schaffens auszubauen. PS: Derzeit dreht ein "Menschen und Mächte"-Team in Brasilien die Geschichte Österreicher:innen, die vor 90 Jahren auswanderten - unterstützt vom anfangs erwähnten Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Titel: "Tirol in den Tropen".

Zahlen, Daten und Fakten zur Leistungskategorie Identität, finden Sie im Datenteil des Public Value Berichts 2022/2023.