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Seit dem zweiten Weltkrieg gelten öffentlich-rechtliche Medien in Europa als mediale Infrastruktur jenseits von Staatsfunk und Gewinnorientierung. Sie sind dem gemeinwohl verpflichtet, produzieren Public und nicht Shareholder Value. Aber: Ihre Zukunft ist in Gefahr. Journalist:innen werden attackiert, Politiker:innen wollen Einfluss ausüben, kommerzielle Konzerne bedrohen die Relevanz. Wozu braucht es öffentlich-rechtliche Medien in Europa?

Ein Beitrag von Dr.in Natascha Zeitel-Bank von der Universität Innsbruck.


„Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“ Dieses überlieferte Zitat von Mark Twain könnte nicht besser auf die Herausforderungen von Wahrheitsfindung, – aufbereitung und -übermittlung im digitalen Kommunikationsraum passen. Zutreffend ist auch die bekannte Redewendung: „Viele Köche verderben den Brei.“ Beide eignen sich trefflich, um die enorme Geschwindigkeit von Informationsübermittlung bei einer neuen Unübersichtlichkeit von Sendern und Empfängern in Zeiten der Plattformökonomie zu beschreiben. Wir befinden uns in einer bisher einzigartigen „Gatekeeper“-Vielfalt. Im Zentrum des Interesses stehen damit Transparenz und Nachvollziehbarkeit im Prozess der Informationsgenerierung. Dabei zeigt sich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk, wie der ORF, seine Position als traditioneller „Gatekeeper“ mit seiner gesellschaftlichen Orientierungsfunktion behaupten kann und gestärkt im Wettbewerb um Aufmerksamkeit hervorgeht bzw. künftig hervorgehen kann. Dies ist zentral, vor allem wenn es sich um gesellschaftlich so relevante Entscheidungsprozesse handelt wie Wahlen auf allen politischen Ebenen im Superjahr 2024. Flankiert wird diese Entwicklung seitens der europäischen Gesetzgebung.

Als Torwächter bzw. „Gatekeeper“ bezeichnet die Europäische Kommission seit dem Jahr 2023 erstmals auch die Betreiber der sehr großen Online-Plattformen und großen Suchmaschinenanbietern („Very Large Online Plattforms“ – „VLOP“ und „Very Large Online Search Engines“ – „VLOSE“). Das Erzielen von Aufmerksamkeit in Social Media Kanälen über individuell zugeschnittene Inhalte auf der jeweiligen Akteursebene über möglichst lange Zeiträume („Rabbit Hole Effect“) führt zu verschiedensten Formen und Unübersichtlichkeiten auf der Empfängerseite. Bei den „VLOPs“ und „VLOSEs“ stehen somit bei der Moderation der Inhalte („Content Moderation“) nicht die Qualität von Informationen, die journalistische Sorgfaltspflicht und die Transparenz der von Algorithmen verursachten Ausspielungen im Vordergrund. Diese Entwicklung geht einher mit der Gefahr des leichtfertigen Konsums von effektgenerierender Desinformation bzw. von strategischer Manipulation auf Empfängerseite, künftig nochmals verstärkt durch Möglichkeiten des Einsatzes von künstlicher Intelligenz, bspw. mit „Deep Fake“. Besonders beachtenswert ist dies vor dem Hintergrund, dass für rund zwei Drittel (59 Prozent) aller jungen Menschen in Europa zwischen 15 und 24 Jahren Social Media die wichtigste Nachrichtenquelle darstellt („Eurobarometer Media and News Survey 2023“).

Auf der individuellen Ebene tritt im digitalen Kommunikationsraum zudem immer wieder ein Perspektivenwechsel zwischen Sender und Empfänger ein: Digitale Inhalte werden nicht nur konsumiert, sondern auch ungefiltert produziert. Das Individuum wird somit zum „Prosumer“ und ist nach den traditionellen Medien und den sehr großen Plattformen der dritte „Gatekeeper“ im Bunde. Begleitet werden diese Entwicklungen von einer erhöhten Informationsabstinenz gerade bei jungen Menschen, die aufgrund der Vielfalt und damit verbundenen Unübersichtlichkeiten in Zeiten multipler Krisen buchstäblich müde geworden sind, Nachrichten zu konsumieren bzw. sie aufgrund ihrer deprimierenden Wirkung gänzlich vermeiden. („News Avoidence“) (u. a. „Reuters Digital News Report 2023“).

Gatekeeper-Vielfalt (verbunden mit unkontrollierter bzw. ungeprüfter Ausspielung gerade im Informationsbereich) und Tendenzen der Nachrichtenvermeidung unterstreichen mehr denn je die zentrale Orientierungsfunktion eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie dem ORF (u. a. „Reuters Digital News Report 2023, Eurobarometer-Umfragen“). Dieser demokratiepolitisch wichtige Pfeiler einer Gesellschaft wird auch von Seiten der EU-Gesetzgebung immer wieder unterstrichen, zuletzt im „Digital Services Act“, „Digital Markets Act“, „Artificial Intelligence Act“ und „Media Freedom Act“.

Die genannten Entwicklungen berühren somit alle Ebenen der gesellschaftlichen und politischen Inhaltsproduktion bzw. Formen der Interaktion im digitalen Kommunikationsraum:

die Makroebene in Form von gesellschaftlich verbindlichen Steuerungsmechanismen im Rahmen der europäischen Gesetzgebung, die organisationale Mesoebene (traditionelle Medien und Plattformen) sowie die individuelle, akteursbezogene Ebene (Mikroebene).

Während sehr große Plattformen- und Suchmaschinen-Betreiber als „Gatekeeper“ seitens der Europäischen Kommission erstmals Ende 2023 verpflichtet wurden, die Art der durch Algorithmen bestimmten „Content Moderation“ in einer allgemein zugänglichen Transparenzdatenbank offenzulegen und der „Prosumer“ als weiterer „Gatekeeper“ mit „Information Overload“ und Informationsmüdigkeit zu kämpfen hat, ist das Einhalten von Sorgfaltskriterien bei der Informationsgenerierung für Qualitätsmedien ein zentraler Bestandteil des journalistischen Selbstverständnisses. Gerade dies bedeutet für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, wie dem ORF, die Chance, als wichtig(st)er „Gatekeeper“ im unübersichtlich gewordenen, digitalen Kommunikationsraum erkannt und auch als solcher langfristig in der Gesellschaft gesehen zu werden.

Es bleibt zudem abzuwarten, wie sichtbar und effektiv auf der flankierenden Makroebene die Europäische Kommission aktiv wird, um die ökonomisch getriebenen großen Plattformen u. a. zur nachhaltigen Bekämpfung von Desinformation und mehr Transparenz u. a. in der personenbezogenen Datenverarbeitung anzuhalten. Am 4. März verhängte die Europäische Kommission bereits eine Geldstrafe in Höhe von 1,8 Milliarden Euro gegen Apple wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens (Pressemitteilung vom 04.03.2024) und forderte zudem neun große Technologieplattformen zur Erklärung auf, wie sich ihre Praktiken im Bereich der generativen Künstlichen Intelligenz mit dem Gesetz über digitale Dienste vereinbaren lassen („Bing“, „Google Search“, „Facebook“, „Instagram“, „Snapchat“, „TikTok“, „YouTube“, „X“, „LinkedIn“) („Daily News“ vom 14.03.2024).

Zudem sind mit dem 09. April 2024 neue Regeln für Transparenz und das Targeting politischer Werbung in Kraft getreten. Damit wird Informationsmanipulation und der ausländischen Einflussnahme auf Wahlen entgegenwirkt. Politische Werbung muss künftig klar als solche gekennzeichnet und erkennbar sein. Es müssen Informationen darüber enthalten sein, wer wie viel dafür bezahlt hat, an welche Wahlen, welches Referendum oder welchen Regulierungsprozess diese geknüpft sind und ob Techniken zur gezielten Werbung verwendet wurden. Politische (Werbe-)Botschaften zur Beeinflussung ihrer politischen Ansichten und Entscheidungen sind somit im Internet für den Empfänger identifizierbar. Auch wird das Sponsoring von Werbung durch Akteure außerhalb der EU in den drei Monaten vor den Wahlen verboten. Die neuen Regeln greifen somit bereits für die EU-Parlamentswahlen am 9. Juni 2024. Sie zählen zu den Maßnahmen der Kommission, die die Integrität von Wahlen schützen und eine offene demokratische Debatte fördern sollen (Verordnung über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung vom 13.03.2024).


Die Dachorganisation der europäischen öffentlich-rechtlichen Medien, die European Broadcasting Union (EBU) hat ihren Sitz in Genf. Auf ihrer Website bietet sie vielfältige Informationen über öffentlich-rechtliche Medien in Europa: https://www.ebu.ch.

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