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© ORF/ Roger Sala

Die Entschleunigung des „Online First“

Public Value Bericht 2015/16: Mag. Simon Hadler – ORF.at


Fatima ist 14 Jahre alt, sie trägt Jeans, eine Bluse aus Jeansstoff und offenes, langes Haar. Adil ist 15, er hat Sneakers an und einen dunkelblauen Pulli mit Kapuze. Fatima kommt aus Tschetschenien, Adil aus Afghanistan. Die beiden winden sich, während sie gemeinsam mit 50 anderen Schülern eines Wiener Gymnasiums dem Vortrag eines Journalisten zum Thema Flüchtlinge und Medien zuhören. Sie wissen, Asylwerber/innen sind unten durch bei den Österreicher/innen. Vorbei der Sommer des Willkommens. Statt Teddybären auf den Bahnhöfen und Selfies mit völlig Fremden, die damit auf Facebook angeben wollen, assoziiert man mit ihnen nun sexuelle Belästigung als Massenphänomen, mafiöse Strukturen, Islamismus und unterdrückte Frauen. Gerade Afghanen und Tschetschenen stehen in der Hackordnung der öffentlichen Meinung ganz unten. Was ist passiert? Ein Paradigmenwechsel der Medien nach dem Motto: „Wir müssen die Ängste der Menschen ernst nehmen.“ Ab hier beginnt die Debatte über die Aufgaben und die Verantwortung von Journalismus.

Der ORF wächst trimedial zusammen – nicht nur in Arbeitsgruppentreffen. Noch sind im Rahmen der zaghaften Annäherung Unsicherheiten im Umgang mit dem Medium des jeweils anderen zu bemerken, selbst dort, wo Anerkennung ausgedrückt werden soll. „Online First“ heißt es etwa und gemeint ist damit die Möglichkeit, Inhalte möglichst schnell über eine Online-Plattform ausspielen zu können. Das TV-Team geht raus, kommt mit einem Bericht zurück und gibt vorab Infos an „die Onliner“ weiter. Dort erscheint bereits am frühen Nachmittag ein erster Artikel, der als Teaser für die Sendung am Abend funktioniert. Themenführerschaft durch Tempo. Online, das ist auch und vor allem „Social Media“, kleine Häppchen für Zwischendurch, verteilt an jene, die man sonst gar nicht mehr erreichen würde. Und schließlich: Online als Experimentierfeld für neue Technologien und Erzählformen.
„Online First“, „Social Media“ und Spielwiese für Experimente – ist es das, was Online-Journalismus ausmacht? Online-Journalismus ist, so banal darf man das in diesem Fall formulieren, vor allem eines: Journalismus. Zurück zur Debatte über dessen Aufgaben – und zurück zum Thema Asyl. Selbstverständlich hat ORF.at unmittelbar berichtet, als Ungarn begonnen hatte, Tausende Flüchtlinge Richtung Österreich zu karren, als die deutsche Kanzlerin die Grenzen öffnete, als Österreich Schengen außer Kraft setzte. ORF.at hat aber auch nach- und weitergefragt. Etwa, was am Facebook-Mythos des überbezahlten, gewalttätigen und undankbaren Flüchtlings dran ist. Mitunter reichen da schon ein paar Anrufe. Dann wieder waren Redakteur/innen in den Flüchtlingslagern – vom Libanon über die jordanische Wüste bis Traiskirchen. Weil „die Sorgen der Menschen ernst nehmen“ nicht heißen darf, jedem einzelnen Gerücht auf Facebook nachzugehen und damit den Paranoikern die Themenführerschaft zu überlassen. Eher bedeutet es, das kurzatmige Frage-Antwort-Spiel zwischen Gut und Böse nicht mitzuspielen, sondern einen Außenblick zu wahren. In diesem Sinn kann und muss (Online-)Journalismus Entschleunigung heißen.
ORF.at fragt nach – besonders, wenn fragwürdige Zahlen auftauchen, die Ressentiments noch weiter schüren könnten. Dann lieber nicht »Online First«. Tempo ist kein Selbstzweck. Kooperation ist kein Selbstzweck. Neue Technologien und Erzählformen sind kein Selbstzweck. Ein gutes Beispiel, das alle vier Punkte vereint, ist die Zusammenarbeit in Sachen Datenjournalismus zwischen „Zeit im Bild“ und ORF.at. Eine interaktive Karte zeigt an, wie viele Asylwerber/innen in Österreich wirklich untergebracht sind – und wo. Sobald es neue Zahlen gibt, erfolgt ein Update. Fakten als Demystifikation. Ähnlich eine Kooperation zwischen der Chronikredaktion der Ö1-Journale und ORF.at. Ein bimediales Rechercheteam beschäftigt sich mit der Thematik Asyl und Wohnungsmarkt – beide arbeiten medienspezifisch mit dem Material. Im Radio wird auf den weiterführenden Bericht von ORF.at verwiesen. Und ORF.at verlinkt den Radiobeitrag – wobei die Leser/innen von der Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes profitieren.
Am Ende schließt sich der Kreis, weil faktenbasierter Journalismus bei den Menschen ankommt, egal, über welche Plattform er ausgespielt wird. Der Artikel über Facebook-Mythen wurde dort, wo er hingehört, nämlich in den sozialen Netzwerken, weit über 100.000-mal geteilt, kommentiert und geliked, obwohl er kein Häppchen für Zwischendurch war. Zurück ins Wiener Gymnasium, wo eine der Lehrerinnen mit resigniertem Blick fragt: „Und woher sollen wir überhaupt noch wissen, was wir glauben können?“ Die Antwort mag nicht sexy klingen: Achtet auf die Quellen. Für ein Medium kann es kein schöneres Selbstverständnis geben, als sich in diesem Zusammenhang als vertrauenswürdige Quelle zu betrachten. Dafür reichen »Online First«, Social Media, Synergiedenken und eine Spielwiese für neue Entwicklungen nicht aus. Dafür braucht es Journalismus.

Der Autor
Simon Hadler wurde 2015 mit dem Prälat-Ungar-Preis der Caritas für engagierte Berichterstattung und mit dem Journalistenpreis „von unten“ der Österreichischen Armutskonferenz ausgezeichnet. Hadler ist seit 1999 ORF.at-Redakteur, seit 2009 leitender Kulturredakteur und schreibt regelmäßig Sozialreportagen.




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