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Öffentlich-Rechtliche sind nicht bloß Lautsprecher
Prof. em. Dr. Roger Blum, Universität Bern
Verschiedene Beobachter aus der Kommunikations- und Medienwissenschaft haben das Verhalten der Medien in der Corona-Krise kritisiert: Sie seien zu sehr regierungshörig und würden zu „Systemmedien“, bemängelte der Zürcher Publizistikprofessor Otfried Jarren
1. Sie dürften sich nicht mit alternativloser Berichterstattung begnügen, forderte der Berliner Medienprofessor Joachim Trebbe
2. Sie seien zu stark an Virologen als Medienstars orientiert, zu sehr auf Einzelfälle fixiert, zu zahlengläubig, zu wenig transparent und zu wenig auf Diskurs aus, bemerkten der Eichstätter Journalistikprofessor Klaus Meier und der Winterthurer Journalistikprofessor Vinzenz Wyss
3. Sie würden zu wenig fragen, nachfragen und hinterfragen, hielt die Kölner Journalistikprofessorin Marlis Prinzing
4 fest.
Dies zeigt, dass die Medien in der Krise eine Rolle übernehmen, die ihnen sonst fremd ist: Sie werden zu Lautsprechern der Regierungen und Experten. In normalen Zeiten ist die Rolle der Lautsprecher den Medien in geschlossenen und autoritär oder totalitär regierten Gesellschaften wie in China oder Kuba vorbehalten, während Medien in offenen und demokratisch regierten Gesellschaften wie in den USA oder in West- und Mitteleuropa eher die Rolle von Widersprechern ausüben. Am stärksten gefährdet, stramm zu stehen und die Lautsprecher-Rolle einzunehmen, ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk, aus zwei Gründen: Er steht psychologisch in einer gewissen Nähe zum Staat, weil ihm dieser den Rahmen setzt und weil er ihm mit den Gebühren die finanzielle Grundlage sichert. Und er ist verpflichtet, in Notstandszeiten amtliche Mitteilungen zu verbreiten. Das macht ARD und ZDF in Deutschland, den ORF in Österreich und die SRG in der Schweiz ein Stück weit zum verlängerten Arm der Behörden. Und ARD und ZDF vor allem hatte Otfried Jarren im Blick, als er von „Systemmedien“ sprach (wobei ich den Begriff als zu belastet ablehne, denn mit „Systemmedien“ und „Lügenpresse“ beschimpfen Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker die traditionellen Medien).
Diese Public-Service-Sender haben zurzeit enormen Zulauf: Die Einschaltquoten sind in schwindelerregende Höhen gestiegen, weil erstens die Leute mehr Zeit zum Fernsehen und zum Radiohören haben, da viele Freizeitaktivitäten wie Kino-, Theater-, Konzert-, Restaurant-, Spielhölle-, Fitnesscenter- oder Stadionbesuche in der Phase des Lockdowns ausfallen, und weil zweitens die Qualitätsmedien – und zu denen gehören die Public-Service-Sender – in Krisensituation wegen ihrer höheren Glaubwürdigkeit mehr nachgefragt werden als beispielsweise Boulevardmedien. Die hohe Glaubwürdigkeit der Public-Service-Sender wird in Umfragen regelmäßig nachgewiesen. Sie hat auch damit zu tun, dass das Publikum sie nicht für einseitig parteiisch hält und von ihnen geprüfte faktenbasierte Information erwartet. Dieses Vertrauen des Publikums hat Anspruch auf Gegenleistung.
Diese Gegenleistung bedeutet, dass sich die gebührenfinanzierten Public Service-Sender auch in der Krise auf ihren Auftrag besinnen sollten: Dieser umfasst nicht nur die Informationsfunktion und die Artikulationsfunktion, sondern auch die Bildungs-, Gratifikations-, Sozialisations- sowie Kritik- und Kontrollfunktion. Es ist richtig, dass die Sender sich an der Aktualität orientieren und breit informieren (Informationsfunktion). Es ist verdienstvoll, dass politische, medizinische und administrative Akteure in Diskussionssendungen auftreten und Interviews geben (Artikulationsfunktion). Es ist den Sendern zudem hoch anzurechnen, dass sie sofort ihre Bildungs-, Kultur- und Unterhaltungsprogramme verstärkt haben und beispielsweise Kulturschaffende im Studio statt in Konzert- und Theatersälen auftreten lassen (Bildungs- und Gratifikationsfunktion). Aber ein mündiges Publikum verdient auch kritische Recherche und kritische Kommentierung. Es soll die Fakten differenziert einordnen können: Wieso wurden die Behörden derart von dieser Pandemie überrascht? Warum waren sie auf eine solche Krise nicht vorbereitet, obwohl ähnliche Viren schon früher zirkulierten? Warum gab es keine Vorräte an Masken? Welche unterschiedlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es über das Virus, seine Verbreitungsart und seine Gefährlichkeit? Solche Fragen und die durch Recherche gewonnenen Erkenntnisse würden die Zusammenhänge noch besser erhellen (Sozialisationsfunktion). Und wenn sich die Public-Service-Sender darauf besinnen, dass auch sie ein Widerpart von Regierung und Verwaltung sind und dass es ihre Aufgabe ist, zu stören, dann erst erfüllen sie ihre Rolle in der Demokratie voll und ganz (Kritik- und Kontrollfunktion).
Roger Blum ist emeritierter Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Bern und Journalist. Er war vielfältig in der Medienregulierung in der Schweiz tätig. Er lebt in Köln.