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Von der Corona-Ausnahme zur Regel?

Prof. Dr. Leonhard Dobusch, Universität Innsbruck



Die Corona-Krise sorgt quer durch alle Bevölkerungsschichten und Branchen für einen Digitalisierungsschub. Social Distancing macht Social Media wichtiger als je zuvor. Vor allem Kultureinrichtungen und einzelne Kunst- und Kulturschaffende versuchen mit neuen digitalen Angeboten auch in der Krise ihr Publikum zu erreichen. Die österreichische Kulturszene ist hier in ihrer gesamten Breite vertreten, wie eine Übersicht auf orf.at dokumentiert:


Wenige Wochen haben gereicht, und man könnte ohne Unterbrechung speziell kuratierte Filmfestivals, virtuelle Theater- und Lesemarathons und ebensolche Ausstellungen besuchen. Von Hochkultur bis hin zu Schenkelklopfern ist alles dabei, von regional bis international.


Dieses Engagement ist zum Teil aus der Not geboren: Mit den abgesagten Konzerten, Lesungen oder anderen Veranstaltungen fallen nicht nur die Gagen für die Auftritte weg, sondern der oft noch wichtigere Aufmerksamkeitseffekt: keine Nachberichterstattung, kein Multiplikatoreffekt, kein Folge-Gig. Gleichzeitig haben wir es derzeit mit einer Ausnahmesituation zu tun. Alle wissen, dass alle improvisieren. Improvisierte Technik und auch mittelmäßig bis schlechte Bild- und Audioqualität wird deshalb toleriert und die Hemmschwelle sich digital zu präsentieren sinkt.


Als digitale Bühne dienen den Kulturschaffenden für ihre improvisierten Angebote jedoch vor allem die üblichen kommerziellen Plattformen wie YouTube oder Facebook. Auch in der oben verlinkten Übersicht führen die meisten Links zu einer der beiden Plattformen. Das ist auch nicht weiter überraschend: egal ob kleine Kultureinrichtungen oder individuelle Kunstschaffende, sie alle sind auf technische Infrastrukturen Dritter zur Verbreitung ihrer Inhalte angewiesen.


Bleibt die Frage, warum die öffentlich-rechtlichen Sender nicht längst eine solche technische Infrastruktur für Upload von Nutzer:inneninhalten bereitstellen? Was könnte einem öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag im digitalen Zeitalter mehr entsprechen, als hier eine niedrigschwellige Plattform für diese digitalen Kulturprojekte zu liefern? Und sie dadurch gleichzeitig zu bündeln und ihnen eine zusätzliche Bühne zu bieten? Mit einer Sortierung von Inhalten, die einem öffentlich-rechtlichen Auftrag und nicht einer profitorientierten Klicklogik folgt?


In einem kleinen Bereich hat der ORF jedoch die Corona-Krise bereits genutzt, um mit Nutzerinhalten zu experimentieren. Um den sprunghaft gestiegenen Bedarf nach kurzen Sportvideos zum Mitmachen zu Hause vor den Bildschirmen besser bedienen zu können, wurden Zuschauer:innen eingeladen, Videos auf ORF.at hochzuladen:


"Wir bewegen Österreich" bietet eine bunte Mischung an Sportangeboten. Dafür werden Homevideos gesucht, in denen Menschen jeden Alters vorzeigen, wie man sich auch in den eigenen vier Wänden kreativ sportlich betätigen kann.


Für den Upload der Videos gibt es ein eigenes Online-Formular unter video.ORF.at. Allerdings gelten auch für diese Nutzer:innenvideos dieselben restriktiven Depublizierungsvorgaben wie für ORF-Inhalte. Weshalb nach einer Woche die ersten Nutzer:innenvideos bereits wieder aus dem Netz verschwunden sind (siehe Screenshot, aufgenommen am 10. April 2020).



Die Corona-Krise macht damit zweierlei deutlich. Erstens, es gibt einen großen Bedarf an Plattformen für Inhalte von Nutzer:innen gerade auch in jenen Bereichen, die zu den Kernaufgaben öffentlich-rechtlichen Rundfunks zählen. Das sind neben dem Kulturbereich auch Breitensport und Informationsangebote. Für öffentlich-rechtliche Angebote im Netz stellt sich deshalb die Frage, ob nicht schon längst eine stärkere Öffnung für nutzer:innengenerierte Inhalte höchst an der Zeit wäre. Nicht um YouTube oder Facebook zu ersetzen, sondern als eine öffentlich-rechtliche Alternative oder Ergänzung.


Zweitens dokumentieren die ersten, Corona-bedingten Experimente des ORF in dieser Hinsicht, wie restriktiv die gesetzlichen Einschränkungen diesbezüglich sind. Sie machen es dem ORF zunehmend schwieriger, ein zeitgemäßes Online-Angebot zu betreiben und vor allem auch jüngere Zielgruppen adäquat zu erreichen. Einerseits wird dem ORF eine Präsenz auf Youtube und damit eine Strategie wie beim öffentlich-rechtlichen Jugendangebot FUNK in Deutschland untersagt. Andererseits gibt es kaum Spielräume für nutzergenerierte und andere Online-Angebote jenseits des linearen Programms. Beides zusammen untergräbt auf Dauer die Legitimation eines gebührenfinanzierten Angebots.


Es braucht also dringend mehr digitale Freiheiten für öffentlich-rechtliche Online-Angebote in Österreich. Der ORF muss endlich auch nutzergenerierte Inhalte kuratieren und Plattform sein dürfen. Damit die Corona-Ausnahme nach dem Ende der Krise zur neuen Regel eines öffentlich-rechtlichen Angebots wird, das den Idealen eines Public Network Value entspricht.


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