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Laura Hörner
Public Value-Studie
Public Value Jahresstudien sind ein wichtiger Baustein der ORF-Qualitätssicherung, denn sie befassen sich mit für öffentlich-rechtliche Medien noch ungelösten Problemen und Herausforderungen. Die Studien ermöglichen einen Blick in die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, erkunden unausgeschöpftes Potential und sollen so einen anspruchsvollen Qualitätsmediendiskurs ermöglichen. Auf Basis wissenschaftlicher Analysen geben die ausführenden Wissenschafter:innen Handlungsempfehlungen - sowohl an die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die die Studien als praxisnahe Grundlage für ihre Programmarbeit heranziehen, als auch an Gesetzgeber und Regulierungsbehörden.
Gerade in den letzten Jahren waren die Public Value Studien häufig interdisziplinär und international ausgerichtet. Die Zusammenarbeit mit anderen europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkhäusern sowie dem europäischen Dachverband öffentlich-rechtlicher Medien (EBU) hat sich bewährt, da Fragen wie jene nach digitaler Transformation (
"Digitale Transformation: Vom Broadcaster zum Qualitätsnetzwerk", 2020), nach zunehmender Nachrichtenvermeidung (
"Informationsdeprivation & News-Avoiding", 2019) oder dem Vertrauen in öffentlich-rechtliche Medien (
"Values and Trust", 2021) nicht nur den ORF betreffen, sondern auch andere öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten.
Die erste vom ORF in Auftrag gegebene Studie trug den Titel "Warum Migrant: innen derzeit ORF-Programmangebote in den Bereichen Fernsehen, Hörfunk und Online wenig oder nicht nutzen - und mit welchen Innovationen und Maßnahmen sie stärker angesprochen werden können" (2007). Der Publizistik- und Kommunikationswissenschafter Fritz Hausjell (Universität Wien) konnte im Rahmen der Studie zeigen, dass Migrant:innen sich in den meisten Medien nicht als "selbstverständlicher Teil" der österreichischen Gesellschaft wahrgenommen fühlen. Aus diesem Grund würden sie sich häufig Medien aus ihren Herkunftsländern oder spezifischen Medienangeboten für Migrant:innen zuwenden. Die Befragten arbeiteten an der Entwicklung einiger Formate, von denen sie sich angesprochen fühlen würden, wenn es sie im ORF gäbe. Ein Beispiel, das großen Anklang fände, wäre eine Kochsendung, in der sich ein österreichischer Koch gemeinsam mit einem Koch aus einem der zahlreichen Herkunftsländer in Österreich lebender Migrant:innen über unterschiedliche Tischkulturen austauscht und an Rezepten arbeitet. Die im Rahmen der Studie befragten Teilnehmer:innen hoben zudem eine fehlende Repräsentanz von Migrant:innen unter den ORF-Mitarbeiter:innen hervor. So legte Hausjell dem ORF neben einem stärkeren inhaltlichen Fokus auf Migration nahe, gegenüber migrantischen Stellenbewerber:innen deutliche Zeichen einer Öffnung zu setzen. Werden die Redaktionen diverser, treffe dies auch auf die Inhalte zu.
Die quantitative Studie
"Die volkswirtschaftlichen Effekte des ORF-Fernsehens" (2012) von Mathias Firgo (WIFO), Oliver Fritz (WIFO) und Gerhard Streicher (Joanneum Research) konnte zeigen, dass der ORF durch seine Aktivitäten als bedeutendes Wirtschaftsunternehmen einen wesentlichen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen sowie regionalwirtschaftlichen Wertschöpfung leistet. Die laufenden Ausgaben und Investitionen des ORF multiplizieren die Wertschöpfungsaktivitäten anderer Bereiche der österreichischen Wirtschaft. So zeigte sich unter anderem, dass jeder Euro an Bruttowertschöpfung, der im ORF im Bereich Fernsehen in Form von Löhnen, Gehältern und Abschreibungen entstand, zu diesem Zeitpunkt in Summe 3,20 Euro zur gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung beitrug. Auf eine im ORF-Fernsehen beschäftigte Person kommen insgesamt fünf Beschäftigte in anderen Bereichen der österreichischen Wirtschaft. Insgesamt generierte der ORF 2012 rund 1,8 Milliarden Euro an gesamtwirtschaftlichem Produktionswert. Die Ergebnisse untermauern den Beitrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für die österreichische Wirtschaftsleistung.
Nachdem sich die Studie 2012 mit der wirtschaftlichen Bedeutung des ORF auseinandersetzte, befassten sich Katharine Sarikakis und Fritz Hausjell (Universität Wien) im Rahmen ihrer Studie (2013) mit der Frage nach dem Beitrag des ORF-Fernsehens auf die intellektuelle Wertschöpfung der österreichischen Gesellschaft. Sie definierten drei Bereiche, durch die der ORF zu dieser intellektuellen Wertschöpfung beiträgt: In der Wahrung der kulturellen Vielfalt und Identität sowie in seiner innovativen Kreativität. Basierend auf wissenschaftlicher Literatur und empirischen Fallstudien hielten die Autor:innen den Status Quo fest und richteten einige spezifische Handlungsempfehlungen an das Unternehmen und die Gesetzgeber. Die intellektuelle Wertschöpfung im Bereich Kultur sei am zielführendsten realisiert, indem Alltagskulturen genauso wie Hochkulturen in Programmen thematisiert werden. Diese Arbeit des ORF sollte, so die Empfehlung, auf allen bedeutsamen Plattformen (TV, Radio, Online) zugänglich sein, um so alle sozialen Schichten und Generationsgruppen zu erreichen und die Relevanz des ORF auf lange Sicht zu festigen. Die Wissenschafter:innen halten die Unterstützung des Staates und der Regulierungsbehörden bei der Erreichung dieser Ziele für unabdingbar. Für den Bereich Identität sei es zentral, dass der ORF bei der Produktion seiner Inhalte dem Umstand des demographischen Wandels sowie der wachsenden kulturellen Vielfalt der österreichischen Gesellschaft Rechnung trägt. Außerdem empfehlen die Autoren einen Programmfokus auf europäische Themen und die Sichtbarmachung des eigenen Ansehens innerhalb der öffentlichen europäischen Institutionen und der Europäischen Rundfunkunion (EBU). Zuletzt sei es von Relevanz, die eigene integrative Funktion weiterhin zu erfüllen, zum Beispiel durch den Einschluss von Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Für den Bereich sozialer Innovationen regten die Autor:innen dazu an, Unterhaltungsprogramme zu produzieren, die dem Publikum einen kritischen Zugang zur eigenen sozialen Welt ermöglichen. Auch hier heben die Autor:innen die wichtige Rolle von Gesetzgebung und Regulierungsbehörden hervor, die dem ORF zusätzliche Mittel zur Entwicklung solcher Formate, gerade für junge Menschen, bereitstellen sollten.
Mit jungen Menschen und ihrer Lebenswelt befasst sich eine Studie aus dem Jahr 2016. Beschäftigt hat das Public Value Kompetenzzentrum zu dieser Zeit, dass immer wieder von "der Jugend" gesprochen wird, ohne so recht zu wissen, wer das eigentlich sein soll. Die Studie
"Generation What? - Das Online-Experiment" setzte sich zum Ziel, dies zu ändern. Im Rahmen einer großangelegten Online-Befragung sollte unter anderem geklärt werden: Wie sehen und definieren junge Menschen sich selbst? Insgesamt 149 Fragen enthielt die Online-Umfrage, an der rund eine Million junge Menschen aus 35 Ländern teilnahmen. Neben einer umfassenden Datenmenge an Auskünften zum Selbstverständnis der Jugend Europas, entstand durch das Projekt eine europäische Öffentlichkeit. Öffentlich-rechtliche Medien haben die Plattformen bereitgestellt und die Antworten der offenen Online-Befragung in Zusammenarbeit mit sozialwissenschaftlichen Instituten einer wissenschaftlichen Auswertung unterzogen. Auch wenn die Ergebnisse nicht repräsentativ für alle jungen Europäer:innen sind, also nicht verallgemeinert werden können, zeichnen sie doch ein umfangreiches Bild junger in Europa lebender Menschen.
Gerade für das Erreichen junger Menschen hat die Studie
"Digitale Transformation: Vom Broadcaster zum Qualitätsnetzwerk" (2020) eine besondere Relevanz. Reinhard Christl beschäftigt sich in seinem Beitrag "Vom öffentlich- rechtlichen Rundfunk zur Digitalen Plattform: Die Rolle der künstlichen Intelligenz" mit der Bedeutung des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz (KI) für moderne Medienunternehmen. Obwohl lange Zeit eine große Skepsis gegenüber dem Einsatz von KI herrschte, weiche diese vermehrt der Erkenntnis, Künstliche Intelligenz - wenn richtig eingesetzt - hielte mehr Chancen als Risiken bereit. Der Autor ist der Auffassung, dass KI die Medienbranche radikal verändern wird, gerade weil die Technologien immer verfügbarer und preiswerter werden. Deswegen sei es von zentraler Bedeutung, eine Strategie im Umgang mit ebendieser zu entwickeln. Christl begreift die Künstliche Intelligenz als wertvolles Mittel, das Redaktionen in ihrer Arbeit unterstützen kann. Traditionelle journalistische Werte und Qualitätsstandards müssten mit den neuen digitalen Möglichkeiten verbunden werden - so könne der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht nur eine konkurrenzfähige Alternative für Plattformen wie YouTube, Netflix, Disney oder Amazon darzustellen, sondern "eine transparentere, intelligentere und qualitätsvollere Alternative zu diesen".
In derselben Studie verfassten auch Uwe Hasebrink, Jan-Hinrik Schmidt und Stephan Dreyer vom Hans-Bredow-Institut einen Beitrag mit dem Titel "Algorithmische Empfehlungen öffentlich-rechtlicher Medienanbieter". Sie behandeln darin unter anderem Prozesse, mit Hilfe derer öffentlich-rechtliche Medienanbieter die von ihnen produzierten sowie erworbenen Inhalte an ein Publikum vermitteln. Dies umfasst unter anderem das Wahrnehmen von Inhalten, das Wecken eines Interesses und die bequeme Nutzung. Waren diese Vermittlungsstrukturen lange geprägt von der linearen Nutzung - zu einer bestimmten Zeit, auf einem bestimmten Kanal - zeigt sich als Konsequenz einer laufenden digitalen Transformation eine zunehmende Veränderung im Nutzungsverhalten. So besteht das leitende Paradigma inzwischen vielmehr darin, audiovisuelle Inhalte idealerweise zu jedem Zeitpunkt und Ort zur Verfügung zu stellen. Diese Entwicklung führte dazu, dass algorithmische Empfehlungssysteme an Relevanz gewonnen haben. Auf der Grundlage umfassender Datenbestände und mithilfe von Künstlicher Intelligenz können heute also sehr spezifische, das heißt personalisierte Empfehlungen, gegeben werden. Neben Sorgen über eine Zentralisierung und Monopolisierung vieler Bereiche der digitalen Öffentlichkeit, stellt sich immer wieder auch die Frage gesellschaftlicher Konsequenzen dieser algorithmischen Empfehlungen. In der Auseinandersetzung mit den Folgen dieser Systeme für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Nutzung grundsätzlich sinnvoll und zu rechtfertigen ist, es aber auf die konkrete Ausgestaltung ankäme. So argumentieren Hasebrink, Schmidt und Dreyer, dass Vielfalt als zentrales Gut demokratischer Rundfunkordnungen auch ein vorrangiges Kriterium für die Auffindbarkeit von Inhalten sein muss. Außerdem seien von öffentlich-rechtlichen Medienanbietern Best-Practice-Standards zu etablieren, insbesondere in Hinblick auf die Erklär- und Überprüfbarkeit der Systeme, gerade in Abgrenzung zu oft intransparenten Algorithmen privater Anbieter. Nur so sei es möglich, das Vertrauen und die Akzeptanz der Nutzer:innen zu gewinnen. Natürlich ist die Nutzung dieser Algorithmen im Digitalen vor allem dann relevant, wenn dieser Online-Bereich auch entsprechend genutzt werden darf.
Zwölf Jahre nachdem Viktor Mayer-Schönberger und Attila Marton (Oxford University) in ihrer ORF-Studie
"Die Rolle öffentlich-rechtlicher Medien im Internet" (2011) Argumente gegen öffentlich-rechtliche Medien im Netz einer kritischen Analyse unterzogen und gesetzliche Beschränkungen in einem weiteren Schritt für unsinnig erklärten, bestehen diese weitgehend fort. Die Autoren forderten die Politik schon damals dazu auf, die Schranken aufzuheben, da sie öffentlich-rechtliche Medienhäuser auf einen "konventionellen Medienstrom" festlägen und so Innovation verhindern. Bis heute bleibt diese Innovation weitgehend verhindert. Die versprochene Digitalnovelle lässt auf sich warten. Und das sei, so die Autoren, bildlich gesprochen, "als würde man öffentlich-rechtlichen Medien in Zeiten des Farbfernsehens vorschreiben, nur schwarz-weiß zu senden".