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Michael Meister, TV-Kultur Von Dörfern in der Stadt Von Alltagschroniken, Liebesgeschichten und Dörfern in der Stadt
Über die alltäglichen Besonderheiten in der ORF KULTUR


Wie beginnt man einen Film? Zum Beispiel mit der nahtlos gebräunten Hinteransicht eines fast nackten Mannes. Er trägt nur einen Tanga und Inline Skates, auf denen er sich anmutig fortbewegt, als tanzte er zu den Klängen des Donauwalzers, mit denen die Szene musikalisch untermalt ist. Wenn ein mediales Werk nicht trotz, sondern wegen seiner Eigenwilligkeit, wegen seiner Widerständigkeit gegen Konventionen und wegen seines Ringens um Wahrhaftigkeit von einem großen Publikumskreis gefeiert wird, spricht man von "Kult".
Elizabeth T. Spiras "Alltagsgeschichte" um die Donauinsulaner ist in besonderem Maß eine Kult-Episode, wiewohl die gesamte Reihe zu Recht als kultig gilt - abzulesen daran, dass sie kein Verfallsdatum hat. Mit ihrer "Alltagsgeschichte" hat Spira - und mit ihr die Kulturabteilung des ORF-Fernsehens in ihrer Herausgeberschaft - eine nahezu enzyklopädische Mentalitätsgeschichte Österreichs geschrieben. Da gibt etwa die Hundekosmetikerin, deren Coiffure annähernd die gleiche ist wie jene des Pudels, den sie gerade unter der Schere hat, zu Protokoll: "Wenn ein Hund gesund ist, kann man ihn auch küssen." Die Kreatur, das Viecherl, das Hunzi, es ist dem homo austriacus oft näher als der Artgenosse. Wo offenbart sich die österreichische Seele, wenn nicht "am Stammtisch"? Einen "Heimatfilm" nannte Spira eine ihrer Alltagsgeschichten, die nicht nur insofern besonders war, als zwischen ihrer Produktion und ihrer Ausstrahlung fast 30 Jahre (28, um genau zu sein) lagen. Da schwadronierten in dichte Rauchschwaden gehüllt einige steirische Lokalpolitiker über das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum: "Der Jude ist von der Christenheit dazu auserkoren, verfolgt zu werden." Antisemitismus, Ausländerhass, schäbige Ressentiments: Auch sie tönten bisweilen dumpf aus Elizabeth T. Spiras Alltagschroniken. Sagen was ist, die Tuchent wegziehen: die Verwerfungen und Abseitigkeiten und das Kleingeistige, das auch zur österreichischen Verfasstheit gehört, offenlegen und sezieren, war ihr Credo. Da wird die Alltagsgeschichte zum Sittenbild von der Schärfe eines Stücks von Ödön von Horváth. Womit wir noch einmal das Bild des eingangs erwähnten, knapp gekleideten Herrn bemühen wollen: Sie fahre den Menschen mit dem nackten Allerwertesten ins Gesicht, sie führe vor, vor allem die vielzitierten kleinen Leute, die Abgehängten, die Modernitätsverlierer. So oder ähnlich lautete anfängliche Kritik an Spira. Tatsächlich zeichnete sie eine große Menschenliebe aus, ein unbändiges Interesse gerade an den "kleinen Leuten". Und die öffneten sich der großen Chronistin oft rückhaltlos. Die Enttäuschten, die von der Liebe geprellten, sie bekamen eine Stimme. Männer, die nicht verstehen wollten, was sie falsch gemacht hatten und Frauen, die ihnen das nicht verzeihen wollten: Schon in der "Alltagsgeschichte" zeigte Spira ihr Gespür für Herzenssachen. Und so wurde sie zur großen "Kupplerin" der Nation.
Wieso ressortiert ein Format wie "Liebesg´schichten und Heiratssachen" in der ORF KULTUR, lautet eine immer wieder, nicht unkritisch gestellte Frage. Die eine, pragmatische Antwort lautet: Weil Spira hier ihren puristischen Stil pflegen konnte, ohne auf etwaigen Firlefanz Rücksicht nehmen zu müssen. Hier wurde niemals gebuzzert, es wurden keine Rosen vergeben und auch nicht mit der Infrarotkamera nächtens unter Bettdecken geschnüffelt. Die ORF KULTUR war so gesehen der Qualitätsgarant für eine ungewöhnlich populäre Sendung und wird es auch in Zukunft bleiben. Weil die "Liebsg´schichten" so old school sind, weil es nicht um Tempo geht und das Spekulative ausgesperrt bleibt, wurden sie ein derartiger Quotenerfolg. "Es gibt keine Freaks bei mir", sagte Spira einmal, und meinte damit, dass auch Menschen, die anders lieben als die Mehrheit, zu respektieren und zu wertschätzen sind. Über den langen Lauf der Serie - und das ist die zweite Antwort auf die Frage nach ihrer Verankerung in der Kultur - wurden gesellschaftliche Veränderungen deutlich gemacht und damit für das breite Publikum akzeptierbar. Insofern haben die "Liebesg´schichten und Heiratssachen" eine gesellschaftlich aufklärerische Funktion.

Auch die ORF KULTUR-Reihe "Mein…. Bezirk" spürt Menschen nach, kommt ohne jedes Spektakel aus und ist wohl genau aus diesen Gründen ein solcher Publikumserfolg. Da sitzen meist prominente Bewohner*innen eines Bezirks oder einer Landeshauptstadt gemeinsam an einem Tisch und beschwören den Geist der Vergangenheit, der doch noch weiterlebt - in ihrem Grätzel oder zumindest in ihnen selbst. Es sind dies Séancen in angewandter Heimatkunde und man merkt den gemeinsam Schwelgenden an, wie sehr sie den Geruch ihrer Kindheit noch in der Nase haben, wie ihnen das Herz hüpft und wie sie stolz sind auf das, wo sie herkommen. Ob in der bürgerlichen, heute boboesken Josefstadt, ob im Arbeiterbezirk Meidling oder im vielleicht gar nicht so noblen Döbling: In jeder Ausgabe geht es um das richtige Gemisch und immer geht es Regisseur Chico Klein um die Menschen in den vielen Wiener Dörfern, die zusammen eine Großstadt ergeben. Bei den Städte-Ausgaben wie "Mein Bregenz" oder "Mein Klagenfurt" führt der gebürtige Grazer Felix Breisach Regie - um den anderen Standpunkt herauszuarbeiten und diesen dem Wiener Wasserkopf entgegenzuhalten.

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