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Prof. Dr. Uwe Hasebrink, PD Dr. Jan-Hinrik Schmidt, Dr. Stephan Dreyer, Hans-Bredow Institut Algorithmische Empfehlungen öffentlich-rechtlicher Medienanbieter: die Perspektive des Publikums Die strategische Entscheidung über den Einsatz und die Gestaltung eines algorithmischen Empfehlungssystems muss neben der Reflexion normativer Zielwerte auch die Interessen der Nutzerinnen und Nutzer berücksichtigen. Auf abstrakter Ebene stellt sich deren Perspektive auf Empfehlungssysteme einfach dar: Sie haben angesichts der unüberschaubaren Fülle an Angeboten ein Interesse daran, auf solche Inhalte aufmerksam zu werden und diese zu finden, welche ihre persönlichen Interessen und Bedürfnisse am besten erfüllen. Bei dem Versuch, diese einfache Zielsetzung zu konkretisieren, ergeben sich allerdings gravierende konzeptionelle Herausforderungen, die bereits in einer früheren ORF Public Value-Studie zum Public Social Value diskutiert wurden und hier auf den Umgang mit Empfehlungssystemen übertragen werden. […] Eine Differenzierung der Nutzerperspektive ergibt sich aus der Überlegung, dass sich Menschen mit Hilfe der Medien in unterschiedlicher Weise zur Welt in Beziehung setzen. Im Sinne einer allgemeinen Systematik mediengestützter Kommunikation lassen sich vier Grundbedürfnisse für die Mediennutzung unterscheiden, die mit unterschiedlichen Zielkriterien für Empfehlungssysteme einhergehen.

Allgemeine Weltbeobachtung: Mediennutzungsprozesse, die sich aus diesem Interesse ergeben, dienen in erster Linie der Überprüfung, ob es Entwicklungen gibt, die für das Individuum relevant sein könnten, weil sie mit potenziellen Chancen und Risiken verbunden sind. Die einzelnen Mediennutzerinnen und -nutzer sind im Hinblick auf diese Form der Bezugnahme auf die Welt gerade nicht selektiv, das heißt, sie suchen nicht nach bestimmten Inhalten oder Darstellungsformen, also etwa nach Informationen über ein bestimmtes Thema oder nach der Musik eines bestimmten Interpreten. Vielmehr handeln sie ungerichtet und lassen auf sich zukommen, was die Medien für interessant und relevant oder für ästhetisch ansprechend halten, und entscheiden dann, ob das auch für sie persönlich gilt. Das entscheidende und von Empfehlungssystemen zu berücksichtigende Beurteilungskriterium für diese Art von Mediennutzung ist die öffentliche Relevanz der Angebote, also eher nicht Personalisierung.

Thematische Interessen und Vorlieben: Die zweite hier unterschiedene Form der Bezugnahme zur Welt ist geprägt von individuellen Interessen und Vorlieben der Mediennutzerinnen und -nutzer, anhand derer sich diese gezielt ganz bestimmten Ausschnitten der Welt zuwenden. Diese I
nteressen und Vorlieben können sich auf bestimmte Themen, etwa Gesundheit, Sport oder Umweltpolitik, auf bestimmte Darstellungsformen, etwa Comedy oder Serien, auf bestimmte ästhetische Stile, etwa konkrete Musikrichtungen und Inszenierungsweisen, oder auf bestimmte Personen beziehen, etwa Prominente aus Film, Musik oder Sport. Anders als bei der allgemeinen Weltbeobachtung ziehen Interessen und Vorlieben gezielte Suchstrategien nach sich, die sich stark an der Expertise für den jeweils interessierenden Gegenstand orientieren und unter Umständen in "selbst gebaute" Filterblasen führen. Denn das zentrale Qualitätskriterium für diese Art von Nutzungssituationen ist es, ob ein Angebot es vermag, den spezifischen individuellen Interessen und Vorlieben zu entsprechen. Hier mögen Formen des inhaltsbezogenen Filterns in Bezug auf das vorherige Nutzungsverhalten die angemessene Strategie sein.

Gruppenbezogene Bedürfnisse: Diese Form der Bezugnahme zur Welt ist in erster Linie an bestimmten Bezugsgruppen orientiert, die für die Mediennutzerinnen und -nutzer relevant sind. Jeder Mensch bezieht sich in seinem Alltag auf bestimmte Gruppen - zum Beispiel die Familie, den Freundeskreis, das berufliche Umfeld, bestimmte Fan-Gemeinden, eine bestimmte Partei oder Religion. Entsprechend orientiert sich auch die Mediennutzung an diesen Gruppen, um so zu erfahren, wie diese denken, um mit ihnen bestimmte Medienerfahrungen zu teilen, um gemeinsam Zeit zu verbringen und um die eigene Zugehörigkeit zu diesen Gruppen zu signalisieren. Das an derartige Medienangebote angelegte Qualitätskriterium ist das der gruppenbezogenen Relevanz. Maßgeblich für Empfehlungssysteme dürften hier Daten über die Kontaktnetzwerke der Nutzerinnen und Nutzer sowie deren Mediennutzung sein.
Situationsbezogene individuelle Bedürfnisse: Die vierte Form der Bezugnahme zur Welt ist geprägt von der Bewältigung konkreter Situationen. Im Alltag begegnen Menschen Herausforderungen, die nicht mit Routinen und Gewohnheiten zu lösen sind, sondern einer auf die konkrete Situation und die individuellen Bedürfnisse in dieser Situation abgestimmten Lösung bedürfen. Die entsprechenden Erwartungen an Medienangebote sind so speziell, dass sich Angebote der Massenmedien und auch auf spezielle Interessen oder bestimmte Gruppen ausgerichtete Medienangebote kaum eignen. Gesucht werden kommunikative Möglichkeiten, die genau die Lücke zwischen dem in der Situation verfolgten Ziel und den gegebenen individuellen Möglichkeiten schließt. Entscheidendes Qualitätskriterium ist die Nützlichkeit der angebotenen Kommunikationsleistung in der konkreten Situation. Aufgrund der Situationsspezifik reichen hier Empfehlungen auf Basis personenbezogener Daten nicht aus, denn die Person sucht ja gerade nach Angeboten, die bei der Lösung eines neuen Problems helfen, weshalb ein Empfehlungssystem in diesem Zusammenhang vor allem eine leistungsfähige Suchfunktion bieten sollte.

Folgt man diesen Überlegungen, dann können starre Empfehlungssysteme, die allein an einfachen Kriterien wie Personalisierung im Sinne von Spezialisierung orientiert sind, aus der Perspektive öffentlich-rechtlicher Medienanbieter kaum erfolgversprechend sein. Wenn die Empfehlungen an einem bestimmten Zielkriterium ausgerichtet werden, birgt dies die Gefahr, dass die jeweils anderen Nutzerrollen und Zielinteressen der Person vernachlässigt werden - das Empfehlungssystem würde den Nutzerinnen und Nutzern bei ihrem Bestreben, ein ihren vielfältigen Interessen entsprechend wohlausgewogenes Repertoire an Medien zusammenzustellen, gerade nicht helfen. Eine Lösung für wirklich funktionale Empfehlungssysteme mag darin bestehen, von einigen prototypischen Nutzungsszenarien oder "Modi audiovisueller Kommunikation" auszugehen, also von Nutzungssituationen, die durch bestimmte Motive und soziale Kontexte definiert sind, und dann im Hinblick auf diese Modi spezifische Algorithmen einzusetzen. Wenn diese Szenarien den Nutzerinnen und Nutzern gegenüber transparent gemacht werden, sodass diese jeweils einstellen können, welches dieser Szenarien ihren momentanen Bedürfnissen und Kontextbedingungen am ehesten gerecht wird, wäre damit auch ein Beitrag zur Transparenz und zur aktiven Einbindung der Nutzer geleistet.

Die Langversion dieses Artikels ist in der Public-Value-Jahresstudie "Die STUDIE: Digitale Transformation" (S. 33-53) erschienen.