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Silvia Heimader, Redakteurin Multimediales ORF-Archiv #81 Warum braucht die Zukunft ein Gedächtnis? Gestalter*innen von linearen Werken werden im Laufe ihres Berufslebens früher oder später mit der Aufforderung konfrontiert: "Kill your darlings!". Egal ob Fernsehbeitrag, Radiosendung oder Drehbuch - dieser harten Ansage (die meist William Faulkner zugeschrieben wird) muss nachgekommen werden. Warum? Der Verzicht auf liebgewordene Details oder Aspekte eines Themas dient dem Wohle eines dramaturgisch stimmigen Ganzen. Das ORF-Archiv ist daher voll vom Herzblut von Gestalter*innen. Interviews, aus denen nur Bruchstücke verwendet werden konnten, oder historischen Aufnahmen, die nie oder nie wieder Platz in einer Sendung gefunden haben.

Internet Plattformen eröffnen nun neue Möglichkeiten. "100 Jahre Salzburger Festspiele" waren ein würdiger Anlass, die multi- und crossmedialen Einsatzmöglichkeiten von Archivalien auszutesten, denn die lange gemeinsame Geschichte von ORF und Salzburger Festspielen hat einen reichen Fundus von historischem Radio- und Fernsehmaterial, aber auch von schriftlichen Dokumenten geschaffen. "100 Pieces" hieß das Projekt, in dem die lineare Fernseh- und Radiowelt und die non-lineare Welt von ORF-ON verknüpft werden sollte. Die Aussicht, mich bei der Gestaltung dem Bebilderungszwang des Fernsehens bzw. der ständigen Notwendigkeit, die Tonspur zu füllen, zu entziehen, fand ich - nebenbei bemerkt - besonders verlockend.

Meine Idee war es, 100 repräsentative Ausschnitte aus den (gefühlt) unendlichen Weiten des ORF-Archivs auf ORF-ON zu präsentieren. Jedes dieser "Pieces" sollte einen unterschiedlichen Blickwinkel auf die Festspiele ermöglichen, aber auch für sich eine abgeschlossene Geschichte erzählen. Nah am Original, um den Zeitgeist der einzelnen Epochen zu transportieren und in einer sensiblen Bearbeitung, um modernen Seh- und Hörgewohnheiten Rechnung zu tragen. Und last but not least: natürlich mit Bedacht auf Urheber-, Leistungsschutz- und Persönlichkeitsrechte. Jede*r sollte sich aus den "100 Pieces" seine eigene Festspielgeschichte zusammenstellen können: Festspiele für Theater-Aficionados, Festspiele für die Opern- und Konzertfreund*innen, Festspiele für die an Glanz und Glamour Interessierten und auch Festspiele für User*innen, die sich für Architektur, Technik, Mediengeschichte, Politik oder Verkehrsplanung interessieren.

Im Sommer 2020 ging dann dank der tatkräftigen Unterstützung von ORF-ON Chefredakteur Gerald Heidegger die Seite https://orf.at/100pieces online. Ein modernes mehrdimensionales digitales Medienmuseum zu "100 Jahre Salzburger Festspiele", zusammengesetzt aus den unterschiedlichsten Quellen unseres multimedialen Archivs. Ungeplant wurde daraus auch ein Archiv zur Durchführung eines großen Kunstfestivals unter Corona-Bedingungen.

Gleichzeitig wurde mit den "100 Pieces" ein Materialpool geschaffen, aus dem Gestalter*innen linearer ORF-Programme Material für ihre Sendungen schöpfen konnten. Madlene Feyrer gestaltet daraus für die sonntägliche Kultur-Matinée eine sechsteilige Fernsehserie über die Geschichte der Salzburger Festspiele, und ORFIII ließ Kunstkritiker Heinz Sichrovsky in "Kultur Heute", der täglichen Kultursendung, einzelne "Pieces" kommentieren.

Musste ich diesmal keine "darlings" ermorden? Nun ja, die Gesetze der Dramaturgie sind auch auf einer Online-Plattform und bei der crossmedialen Verwendung nicht völlig außer Kraft. Und so kenne einige Geheimnisse unseres Archivs nach wie vor nur ich. Aber ganz sicher ermöglicht die Online-Darstellung von historischen Themen eine wesentlich umfassendere Einbeziehung von Archivmaterialien. Und damit für ORF-Seher*innen, Hörer*innen und User*innen neue, vielfältigere und auch persönlichere Zugänge zur Geschichte.