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Ingrid Deltenre im Interview
Public Value als Qualitätsmerkmal
Qualitätsmedien und Qualitätsjournalismus stehen zurzeit unter erheblichem Druck: u. a. durch politischen Einfluss von Regierungen, durch restriktive Sparmaßnahmen und durch die laufende digitale Transformation. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage, wenn es um die wichtigsten gesellschaftlich und demokratiepolitisch relevanten Herausforderungen im Zusammenhang mit Medienqualität geht? In den mitteleuropäischen Demokratien wie Österreich, Deutschland, Schweiz, Italien und Frankreich und auch in Skandinavien oder Großbritannien rührt die Hauptgefahr für die Qualitätsmedien von sich selber her. Weil sie oft glauben, punkto Geschwindigkeit, Dramatisierung und Personalifizierung mit den oberflächlichen Online- und anderen Gratismedien konkurrenzieren zu müssen. Das ist falsch! Sie müssen sich auf ihre fundamentalen Werte besinnen: Seriosität, Integrität, Kompetenz und Unabhängigkeit. Diese Werte machen ihre Glaubwürdigkeit aus - und Glaubwürdigkeit ist gerade heute in Zeiten von Fake News die relevante Währung. Denn nur wenn Nutzerinnen und Nutzer glaubwürdige und relevante Informationen erhalten können, werden sie auch bereit sein, dafür zu bezahlen, egal über welchen Vertriebsweg sie die Inhalte nutzen.
Lässt sich öffentlich-rechtliche Medienqualität überhaupt definieren und evaluieren? Wenn ja, welche Ansprüche, ggf. Qualitätskriterien sind dafür wichtig? Die Qualität öffentlich-rechtlicher - wie auch anderer - Medien lässt sich gut messen, indem man ihr Publikum befragt. Dabei geht es einerseits darum, die Glaubwürdigkeit eines Mediums abzufragen. Andererseits geht es darum, seine Relevanz in den wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen zu evaluieren. Mit anderen Worten: Wird die Stimme des betreffenden öffentlich-rechtlichen Mediums gehört, und glaubt man diesem Medium, was es sagt … und zeigt. Von öffentlich-rechtlichen Medien wird immer wieder eine Unterscheidbarkeit zu kommerziellen Medien verlangt. Woran könnte man die "distinctive quality" der öffentlich-rechtlichen Medien erkennen? Eine generelle Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten kommerziellen Medien ist schwierig, denn auch bei den privaten kommerziellen Medien gibt es viele, die den gleichen Qualitätsansprüchen genügen wie die guten öffentlich-rechtlichen, insbesondere im Printbereich. Aber für die öffentlich-rechtlichen Medien ist es ein Muss, dass sie einen "Public Value" - einen Nutzen für die Allgemeinheit haben. Für kommerzielle Medien, auch wenn sie sich durch sehr gute Qualität auszeichnen, ist hingegen der Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes kein Imperativ.
Warum ist Qualitätssicherung für öffentlich-rechtliche Medien wichtig? Ohne Qualitätssicherung haben öffentlich-rechtliche Medien keine Daseinsberechtigung. Denn nur die größtmögliche Qualität - und ihre Themenrelevanz - machen sie für die Gesellschaft, der sie dienen, unverzichtbar. Digitale Transformation und Künstliche Intelligenz sind aktuelle Herausforderungen für alle Medien. Ergeben sich dadurch neue Qualitätskriterien? Braucht es dafür eine europäische, internationale Perspektive und Dimension (insbesondere für öffentlich-rechtliche Medien)? Digitale Transformation und Künstliche Intelligenz sind nicht das Ziel, sondern ein Mittel zum Zweck. Bezogen auf die öffentlich-rechtlichen Medien heißt dies: Wie müssen wir uns anpassen, damit wir die technischen Möglichkeiten und die Künstliche Intelligenz bestmöglich nutzen, um die Bedürfnisse unseres Publikums - nach relevanter und glaubwürdiger Information, unabhängig vom Vertriebskanal - noch besser stillen zu können. Der ORF kann diese Möglichkeiten aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zu wenig nutzen. Das wird mittel- und langfristig ein großes Problem, falls diese Rahmenbedingungen nicht angepasst werden. Der Blick über die Landesgrenzen lohnt sich, weil man von anderen öffentlich-rechtlichen Medien lernen kann. Sie haben umfangreiche Erfahrung und Kompetenz in Fragen öffentlich-rechtlicher Medienqualität. Wie beurteilen Sie das ORF-Qualitätssicherungssystem im internationalen Vergleich? Die Radio- und Fernsehangebote des ORF genießen bei ihrem Publikum - genauer: ihren Publika - einen sehr guten Ruf. Das kommt nicht von ungefähr. Es ist das Verdienst eines konstanten Strebens, die eigene Qualität immer weiter zu verbessern. Dazu braucht es ein umfassendes Qualitätssicherungssystem. Das Qualitätssicherungssystem des ORF gehört europaweit zu den besten im Bereich öffentlich-rechtlicher Sender. Darauf darf der ORF zu Recht stolz sein.
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Ingrid Deltenre ist eine international anerkannte Medienexpertin.
Sie war u. a. Direktorin der publisuisse und des Schweizer Fernsehens.
Von 2010 bis 2017 arbeitete sie als Generaldirektorin der Europäischen Rundfunkunion (EBU).