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Prof. Dr. Olaf Jandura
Sozialer Kitt für das Gemeinwesen
Der diesjährige Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie in Wien wählte - beeinflusst von den verschieden aufeinander folgenden und nebeneinanderher ablaufenden Krisen der letzten Jahre als Tagungsthema - die Redewendung "Kritische Zeiten". Parallel zu diesen Krisen kennzeichnen verschiedene Gesellschaftsdiagnosen, wie die gespaltene Gesellschaft (Kaube und Kießerling 2022), die Krise der liberalen Demokratie (Zielonka 2019), die politische Polarisierung (Roose 2021) oder die neue Klassengesellschaft (Reckwitz 2018) gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die eine Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche politische Lager beschreiben und problematisieren. Solche multiplen Spaltungen können ein Bedrohungsszenario für die Demokratie sein, wenn im Konflikt um unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Ansprüche und Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen keine Kompromissbildung möglich ist (Habermas 1996).
Die Grundlagen für einen solchen Kompromiss sind (1) die Kenntnis divergierender Ansprüche, (2) die Akzeptanz dieser und (3) der Wille zur Einigung durch die Bürgerinnen und Bürger. Die Wahrnehmung der verschiedenen Ansprüche in der Gesellschaft wird erst durch die öffentliche Kommunikation in verschiedenen Arenen der politischen Öffentlichkeit für alle möglich. Jedoch ist diese an voraussetzungsreiche Bedingungen geknüpft. Auf der Ebene der zufällig entstehenden Encounteröffentlichkeiten ist der Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern mit anderen Positionen und Ansichten zu suchen. Verbleibt man allerdings im eigenen, meist einstellungshomogen, Milieu, wird man in den Gesprächen über Politik auch die eigenen, durch ähnliche Lebenslagen und beruflichen Situationen geprägten Ansichten (Geiling und Vester 2007) wiederfinden.
So zeigt die empirische Forschung, dass die interpersonale Kommunikation, das "Hearing the Other Side" (Mutz 2006) als Informationsmöglichkeit über konkurrierende politische Positionen eher überschätzt wird (u. a. Kösters, Jandura 2018). Auch auf der Ebene der Versammlungsöffentlichkeiten bietet sich an, auch Veranstaltungen von Parteien, Verbänden oder Vereinen aufzusuchen, auf denen der eigenen Meinung widersprechende Positionen diskutiert werden. Auch so lässt sich Koorientierung in der Gesellschaft ermöglichen. Jedoch zeigt auch hier die Empirie, dass zumindest vor Wahlen nur ein geringer Teil der Wählerschaft Wahlkampfveranstaltungen besucht und wenn dies der Fall ist, dann meistens nur die des eigenen politischen Lagers (Schulz 2022). Eher und besser im Vergleich mit der Encounter- und Versammlungsöffentlichkeit gelingt eine plurale Information zu relevanten gesellschaftlichen Themen und Positionen mit großer Wahrscheinlichkeit über die Massenmedien (Castro et al. 2018: 552), wenn in diesen die relevanten gesellschaftlichen Diskurse abgebildet werden (Jarren und Donges 2011).
Zu den Leistungen des politischen Journalismus für die Gesellschaft zählt es, Wissen über gesellschaftlich relevante Themen zu vermitteln, verschiedene Argumente und Positionen zu diesen Themen aufzubereiten und identifizierbar zu machen (Weiß et al. 2020) und somit für sachliche, soziale und temporale Koorientierung in der Gesellschaft zu sorgen (Weiß und Jandura 2017). So stellen Medien eine Arena für den pluralistischen Austausch verschiedener Positionen bereit (Forumsfunktion), legitimieren politische Macht auf der Basis von Transparenz und Rationalität bei der Entscheidungsfindung (Legitimationsfunktion) und sorgen dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sich selber als Mitglied der Gesellschaft wahrnehmen können (Integrationsfunktion) (Weiß et al. 2016).
Diese Leistungen wurden lange Zeit stabil und klar zuordenbar durch die traditionellen Massenmedien wie die Tages- und Wochenpresse und den Rundfunk erbracht, die - auch aufgrund des Fehlens alternativer Angebote - eine sehr hohe Reichweite und somit Breitenwirksamkeit und Bindekraft erreichten (Jarren 2019: 67). Die digitalisierungsbedingte starke Angebotsdifferenzierung, die mit dem Wechsel von einem "low choice" zu einem "high choice media environment" (van Aelst et al. 2017) beschrieben wird und die steigende Bedeutung von Social-Media-Angeboten zur Informationsnutzung (Newman et al. 2022: 11) bietet den Bürgerinnen und Bürgern eine neue, vielschichtige und facettenreiche Auswahlfreiheit.
Folgt man der Debatte um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wird mitunter die Position vertreten, dass diese hohe Auswahlfreiheit allein für eine die Bürger zur politischen Teilhabe befähigende (Imhof 2013) ausreichende Informiertheit sorgen werde (Barwise und York 2020). Diese Argumentation verkennt jedoch, dass an die politische Berichterstattung aus demokratietheoretischer Perspektive Leistungsanforderungen gestellt werden (Althaus 2012), die durch kommerzielle Angebote und/oder Angeboten mit dezidiert ausgeprägter redaktioneller Linie aufgrund ihrer spezifischen Selektionsroutinen nicht zwangsläufig erbracht werden können bzw. sollen (u. a. Curran 2002, Weiß et al. 2016). Diese Angebote sind nicht gesellschaftsweit, sondern häufig in spezifischen gesellschaftlichen Milieus integrationsfördernd und eignen sich so häufig als Foren der Binnenkommunikation (Jarren 2000) innerhalb dieser. In solchen Foren werden Themen und Positionen aus einer weltanschaulich homogenen Perspektive verhandelt, werden teilweise Vorschläge politischer Gegner mit iliberalen Formen der Verrohung der politischen Sprache delegitimiert und/oder Diskursallianzen mit Meinungskongruenten politischen Akteuren gebildet (u. a. Kösters et al. 2021).
Eine solche Debattenkultur steht einer gesamtgesellschaftlichen Kompromissbildung aber im Wege und kann zur gesellschaftlichen Polarisierung führen (Rosconi 2022). Gerade vor dem Hintergrund sich solcher ausdifferenzierenden Informationsumgebungen und den weiterführenden gesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse sind öffentlich-rechtliche Medien, die nicht die Rolle der Aggregation und Vermittlung von Ansprüchen, sondern die Rolle als Vermittler in gesellschaftlichen Konflikten einnehmen (Kösters 2020), wichtiger denn je. Ziel dieser vermittelnden Rolle ist es gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden und für soziale und politische Integration zu sorgen. Hierfür sind öffentlichkeitstheoretisch fundierte Qualitätsstandards an die Berichterstattung zu richten. Die vielfältig in der Kommunikationswissenschaft dazu entwickelten Vorschläge (u. a. Strömbäck 2005, Jandura und Friedrich 2014) lassen sich auf vier Dimensionen kondensieren, die unabhängig von den demokratietheoretischen Leitvorstellungen in Anschlag gebracht werden können: Relevanz, Pluralität, Einordnungsleistung und journalistische Professionalität (Stark et al. 2021).
In der Relevanzdimension werden die Inhalte daraufhin geprüft, welche Bedeutung das Thema für die Gesellschaft als Ganzes oder relevante Teilgruppen der Gesellschaft hat. Je höher die Relevanz der Berichterstattung ist, desto eher gelingt es die Aufmerksamkeit des Publikums auf die wichtigen Streitfragen zu lenken. Die Pluralität der Berichterstattung lässt sich über verschiedene Kriterien ermitteln. So wird über die Themenvielfalt analysiert, wie breit das Spektrum der behandelten Themen ist. Ein Fokus auf ein Thema oder wenige Themen birgt dabei die Gefahr, dass relevante Sachverhalte außer Acht gelassen werden. Die Erfassung der Pluralität der Akteure lässt Rückschlüsse darauf zu, wer Sprecherpositionen in der Berichterstattung innehat und wie diese verteilt sind. Fragen nach der Sichtbarkeit von Regierungs- und Oppositionsparteien, zivilgesellschaftlicher Akteure oder des einzelnen Bürgers können so beantwortet werden. Über eine Erfassung der Positionsvielfalt wird gemessen, ob den zu Wort kommenden Akteuren auch die Möglichkeit gegeben wird, ihre eigenen Positionen darzustellen oder ob diese nur destruktiv zu Problemlösungsvorschlägen anderer Akteure Stellung beziehen dürfen.
Im Idealfall sind all diese Pluralitätsindikatoren eng miteinander verzahnt, eine breite Themenvielfalt führt auch dazu, dass verschiedene Akteure in der Medienberichterstattung zu Wort kommen und dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Bürger zu den unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft unterrichtet werden. Die Dimension der Einordnungsleistung adressiert die Frage, wie stark die Berichterstattung Ereignisse kontextualisiert und so über bloße Ereignismeldungen hinausgeht (Stark et al. 2021). Untrennbar mit den bislang vorgestellten Qualitätsdimensionen verbunden ist die vierte Dimension, die Erfassung professioneller Standards des Journalismus. Gemeint sind damit Aufbereitung und Präsentation der Inhalte die einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess ermöglichen. Hierzu zählen die Begründetheit von Positionen, die Bezugnahme auf diese sowie der von einer hohen Zivilität geprägte Umgang (Wessler 2018, Jandura und Friedrich 2014). Erfüllt die politische Berichterstattung die genannten Kriterien der Relevanz, Pluralität, Einordnungsleistung und eine sich an den Kriterien des Deliberationsprozesses orientierenden journalistischen Professionalität, trägt dies zur gesellschaftlichen Integration bei. Die bislang vorhandenen verlässlichen empirischen Grundlagen zu den angesprochenen Qualitätskriterien sind noch eher rar (Udris et al. 2023, Seethaler 2015). Insofern sollte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch regelmäßig selbst vergewissern, ob man diese geforderte inhaltliche Qualität dem Publikum zur Verfügung stellt.