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Christian Wehrschütz Europa – 238 Tage Ukraine In Kriegszeiten liegen die Nerven blank. Das merkt man während der Arbeit als Journalist in Kriegsgebieten immer wieder - so wurden etwa meine Kollegen plötzlich und haltlos als russische Spione verunglimpft. Es hat gedauert, bis das bereinigt war und war nur eines der Probleme, die sich für einen Journalisten stellen. Man sollte sich z. B. immer bewusst sein, dass auch Opfer nicht immer die Wahrheit sagen. Dass beide Parteien versuchen, die Öffentlichkeit zu beeinflussen. Dass es gerade in dieser Situation öffentlich-rechtliche Tugenden braucht: Es gilt, journalistisch sorgfältig zu arbeiten. Beide Seiten wahrzunehmen. Unparteiisch zu bleiben. Und da darf man sich auch nicht zensieren zu lassen - denn natürlich gibt es Militärzensur im Krieg. Man darf sich auch nicht vereinnahmen lassen. Man ist nicht Mitarbeiter einer Hilfsorganisation oder Staatsanwalt - sondern ein Redakteur, der den Österreicherinnen und Österreichern ein Bild von der Lage vermitteln soll. Das ist echter Mehrwert.

Public Value - zu Deutsch wohl übersetzbar mit "Öffentlicher Mehrwert" - ist eine naturwissenschaftlich nicht messbare, aber trotzdem relevante Größe, die nicht zuletzt die Finanzierung des ORF durch Gebühren oder eine mögliche Haushaltsabgabe rechtfertigt. Aus meiner Sicht besteht "öffentlicher Mehrwert" unter anderem auch in dem Weitblick, den die ORF-Führung im Jahre 2014 während des Krieges in der Ostukraine bewies; sie erkannte die geopolitische Bedeutung der Ukraine, die langfristige Dimension des Konflikts mit Russland und seine möglichen Folgen für Europa - und eröffnete ein Büro in Kiew. Dieses Büro wurde auch in jenen Jahren zwischen 2016 und 2021 weiter finanziert, als Migrationskrise, Brexit und Corona die Ukraine als wichtiges Thema in den täglichen Nachrichten verdrängten. Möglich war das auch deswegen, weil es uns gelang, die Kosten für die Miete des Büros durch Verhandlungen und ein gutes Verhältnis zum Vermieter beträchtlich zu reduzieren.

Entscheidend für die langfristigen Erfolge des Büros in Kiew war, dass mir als Korrespondent im Rahmen des finanziell Möglichen freie Hand bei der Auswahl des Standortes gelassen wurde. Aus den Erfahrungen der Maidan-Revolution entscheid ich mich für ein Büro ganz im Zentrum von Kiew; denn wenn nichts mehr im Brennpunkt der Stadt funktioniert, weil durch Demonstrationen und Ausschreitungen jeder öffentliche Verkehr lahmgelegt ist, dann muss jeder wichtige Punkt - vom Präsidentenpalast über den Regierungssitz bis hin zum Parlament zu Fuß zu erreichen sein. Wie richtig und wichtig diese Standortwahl war, zeigt sich seit einem Jahr auch durch den Krieg! Unser Nachbar ist der ukrainische Staatspräsident - und bei aller möglichen Gefährdung durch Artilleriebeschuss - solange Volodimir Selenskij Strom und Wasser hat, haben wir das in unserem ORF-Büro auch. Andererseits sind gerade auch das Büro in Kiew und die Durchführung unserer Berichterstattung während des Krieges ein weiterer Beweis dafür, dass wir als Mitarbeiter:innen eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens den Auftrag des Rechnungshofs zur sparsamen und wirtschaftlichen Gebarung befolgen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Medien leben mein Kameramann, mein Produzent/Fahrer und ich in einer Dreier-WG im Büro in Kiew und nutzen dabei jene Räume, die eigentlich für meine Familie gedacht waren. Trotzdem ist die Berichterstattung über einen Krieg aus einem Kriegsgebiet an jedem der 238 Tage, die ich in der Ukraine war, nicht nur gefährlich, sondern natürlich auch nicht billig. Ihre Finanzierung und die Bereitstellung aller nötigen Mittel - vom Stromgenerator bis hin zur Star-Link-Einheit sind ebenfalls Teil jener Investitionen, die uns die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrages ermöglichen.

Das Korrespondentennetz insgesamt sowie die Eröffnungen von Büros in Peking, der Türkei und eben auch in Kiew sind wohl der beste Beweis für die Erbringung von "öffentlichem Mehrwert" durch den ORF. Welche andere Fernsehanstalt in Ländern vergleichbarer Größe leistet sich ein derartiges Netzwerk, dass nicht nur eine objektive, sondern auch eine österreichische Sichtweise auf weltpolitische Ereignisse ermöglicht. Dass diese Form der Berichterstattung von der österreichischen Bevölkerung gewürdigt und geschätzt wird, zeigen mir die viele Reaktionen von Hörern und Sehern auch bei Vorträgen und Buchpräsentationen sowie in Schulen, die ich zusätzlich zu meiner Arbeit als Ukraine- und Balkan-Korrespondent seit Herbst des Jahres 2022 absolviert habe und absolviere. So sind wir als ORF Teil und Träger einer österreichischen Identität - und das ist wohl der insgesamt wichtigste öffentliche Mehrwert, den die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dieses Unternehmens erbringen - vom Team beim Empfang am Küniglberg bis hin zur Führung, die den ORF in dieser herausfordernden Phase seines Bestehens leitet.

Zahlen, Daten und Fakten zur Leistungskategorie Europa, finden Sie im Datenteil des Public Value Berichts 2022/2023.